Berlin
Wir sind seit fast fünf Stunden unterwegs. Vor uns tauchen die Grenzanlagen der DDR
auf. Wir werden langsamer und halten am Schlangenende an. Langsam geht es vorwärts. An
der Kontrollstelle müssen wir aussteigen und eine Identitätsbescheinigung für mich
ausstellen lassen, weil ich keinen Reisepaß habe. Als ich zum Auto zurückkomme, steht
ein Grenzsoldat an meinem Auto und schaut auf die Rücksitzbank. "Was ist das?"
Das sieht man doch. "Eine Stereoanlage" antworte ich kurz. Er schüttelt nur den
Kopf und geht dann weiter. "Sie müssen sich hinter den roten einsortieren"
befiehlt der Grenzer im Häuschen. Nach wenigen Minuten ist das Schauerspiel vorbei. Wir
fahren weiter und ich halte mich konsequent an die 100 Stundenkilometer. Wenigstens kann
man sich in der DDR nicht verfahren. Alle Schilder Richtung Berlin sind gelb: ,Transit
Westberlin. Wir halten an einem Parkplatz ohne Raststätte. Als ich aus dem Dickicht
zurück komme, steht ein Wartburg der Volkspolizei am Ende des Parkplatzes. Mir wird
mulmig und wir fahren gleich weiter. Nach drei Stunden kommt die andere Seite der Grenze.
Diesmal geht es schneller. Ich gebe die Identitätsbescheinigung ab und darf gleich weiter
fahren. Die Polizei auf Berliner Seite winkt alle durch.
Ich gebe Gas. Drei Stunden Hundert fahren macht einen wahnsinnig. Nach zwanzig Minuten
sind wir bei Siggi. "Eh, Keule" werden wir siggitypisch begrüßt. Kurz darauf
fahren wir zu Heidis neuer Wohnung. Es ist praktisch um die Ecke. Wir steigen die vier
Etagen hoch. Heidi wartet schon. "Hallo, kommt herein" sagt sie leise. Heidi und
ich kennen uns zwar nicht so gut, trotzdem kann ich vorerst bei ihr wohnen.
Die nächste Zeit hänge ich mit Siggi herum. Fahren nach Kreuzberg und betrinken uns.
Irgendwann am Morgen komme ich zurück zu Heidi. Sie wacht jedesmal auf. Sie hat nur ein
Zimmer. Es ist mir peinlich.
Lehrjahre
Gestern war ich mit dem Vater von Kai bei einer kleinen Spedition in Schöneberg. Eine
ältere Frau mit langen grauen, nach hinten gebundenen Haaren fragte mich tausend Sachen.
Aber dann lächelte sie endlich und ich hatte einen Job.
Heute ist mein erster Arbeitstag. Telefonzentrale und Ablage. Das ist einfach. Und ich
werde ganz gut bezahlt. Jetzt habe ich wenigstens einen Grund aufzustehen.
"Morgen um 11.00 Uhr hast Du ein Vorstellungsgespräch bei Schenker. Ist gleich
um die Ecke." Meine Chefin schaut mich an und ich kann gar nichts sagen. "Du
mußt deine Ausbildung zu Ende machen" gibt sie mir zu verstehen. Ich weiß. Sonst
hat man im Leben keine Chance. Das haben mir schon andere gesagt. "Du tust es für
Dich!" Ich mag die Chefin.
"Das müssen sie mir genauer erklären" sagt der Ausbildungsleiter von
Schenker und zieht die Augenbrauen nach oben. Ich habe eben versucht zu erklären, warum
ich bei Lebert die Ausbildung abgebrochen habe. Ich erzähle ihm von meinem damaligen
Chef, von den Ohrringen, von dem Hemd, das draußen hing. Er hört aufmerksam zu und zieht
seine Augenbrauen noch weiter nach oben. Ich muß fast lachen. Irgendwie sieht er lustig
aus. "Vielleicht kann ich es nur nicht richtig verstehen." Ich erzähle ihm vom
Heim, aber nur, daß ich dort aufgewachsen bin. Und daß ich zu meinem Vater keinen Bezug
habe. Daß sich Herr Eggert immer bei meinem Vater beschwerte und der mir nie was sagte.
"Es war schwierig mit meinem Vater zusammen zu arbeiten. Wir kennen uns kaum."
Mein Vater. Was hat er hier zu suchen? Herr Miericke nickt. Er lächelt. "Ich
verstehe." Hoffentlich. Noch mehr will ich ihm nicht von mir erzählen. "Wir
melden uns bei ihnen." "Ja, vielen Dank" sage ich schnell und bin froh, als
ich wieder auf der Straße bin.
Nach ein paar Tagen habe ich einen Brief von Schenker in meinem Briefkasten. Sie laden
mich zu einem zweiten Gespräch ein. Mit dem Geschäftsstellenleiter.
Ich rutsche unruhig auf dem breiten Sessel hin und her. Dann kommt er. "Hallo,
entschuldigen sie, daß ich sie warten ließ." "Kein Problem." Der
Geschäftsstellenleiter erzählt von sich, daß er aus dem Raum Stuttgart kommt. Das sei
ja ganz in der Nähe. Wir unterhalten uns gut. Sie fragen nicht mehr warum ich in Berlin
bin. "Haben sie etwas dagegen, wenn ich bei ihrem früheren Chef einmal anrufe?"
Ich zucke leicht zusammen. "Nur um zu erfahren, welchen Stand sie in der Ausbildung
haben" schiebt Herr Miericke gleich nach. "Ja, ja, in Ordnung." "Rufen
sie mich Mittwoch an." "Ja."
Ich gehe zurück zu meiner Chefin und erzähle ihr von dem Vorstellungsgespräch.
"Na, das sieht doch gut aus" lächelt sie mir aufmunternd zu.
Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer von Herrn Miericke. "Ja, es ist zwar
ein Risiko für uns, einen Auszubildenden zu nehmen, der schon einmal abgebrochen hat,
aber wir versuchen es trotzdem." "Danke" kann ich nur noch herauspressen.
Ich bin sprachlos.
Ich fahre nachmittags zum Arbeitsamt und erzähle der Arbeitsvermittlerin von meiner
Stelle. "Na endlich!" sagt sie und grinst mich schelmisch an.
"Mußt Du nicht um acht da anfangen?" Ich schrecke hoch und sehe auf die
Uhr. Halb neun. "Scheiße." Heidi kam gerade von ihrem Freund zurück. "Was
soll ich machen?" Ich suche verzweifelt die Telefon-Nummer von Herrn Miericke. Er
meldet sich nicht. "So ein Mist." Ich wähle die Nummer der Personalchefin. Daß
ich verschlafen habe, kann ich ihr nicht sagen. Also lüge ich. "Ich muß zum
Arbeitsamt wegen Geldangelegenheiten." "Kein Problem, bringen sie das Schreiben
einfach mit." Ich lege auf und hetze zum Arbeitsamt. Die Sachbearbeiterin schaut mich
mit großen Augen an. "Was ist?" Ich erzähle ihr die Situation. Sie schüttelt
den Kopf und dreht sich zu ihrem Bildschirm. Nach ein paar Sekunden habe ich das Schreiben
in der Hand. "Danke!" strahle ich sie an und verschwinde wieder.
Herr Miericke will das Schreiben noch nicht einmal sehen. "Ich dachte schon, sie
haben es sich nochmals überlegt." Dann erklärt er mir den Ausbildungsplan und
stellt mir das Unternehmen vor. Schenker ist um vieles größer, als ich dachte. Weltweite
Präsenz. Ich komme mir plötzlich klein vor. "Ich habe mit ihrem damaligen Chef
gesprochen, und als ich ihren Namen sagte, meinte er: Was, der Herr Strauch in Berlin, das
kann ja gar nicht gut gehen." Herr Miericke grinst und schüttelt den Kopf.
Nach drei Stunden bringt er mich zu meinem Arbeitsplatz. Drei Disponenten sitzen an
einem Vierer-Tisch. Ein Platz ist frei. Wegen Krankheit. "Sie haben doch schon
disponiert?" werde ich gefragt und ich nicke nur. Die drei sind alle noch sehr jung.
Lange können sie die Ausbildung noch nicht hinter sich haben. Sie sind freundlich und ich
bin froh, daß ich hier bin.
Die Mauer
Nach ein paar Wochen sagt Heidi zu mir, daß ich nicht länger bei ihr wohnen kann.
Ich verstehe und gehe zu ein paar Mitwohnzentralen.
Nach einigen Versuchen habe ich Glück. Zwar nur für drei Monate, aber immerhin. Es
ist eine 1-Zimmer-Wohnung in Neukölln. Heidi hilft mir beim Umziehen. Die Vermieterin ist
auf dem Weg nach Indien. Die Einrichtung hat sie hier gelassen. Zum Glück. Ich sitze in
der Küche und rauche. Ruhe. Endlich.
Wenn ich aus dem einen Fenster sehe, kann ich die Mauer sehen. Dahinter ist der
trostlose Grenzstreifen. Dann kommt eine Häuserreihe mit weißen kahle Wänden. Kein
Fenster ist auf dieser Seite.
Andy besucht mich. Wir treffen uns am Bahnhof Zoo und fahren dann in meine
Zeit-Wohnung. Wir trinken Sekt und unterhalten uns. Wir lachen über unser Verhalten
damals. Unsere Verfolgungsjagden durch die Stadt. Auf einmal spüre ich ihre Hände an
meinem Hals. "Ich will mit dir schlafen." Ich glaube, ich bin zu betrunken und
nicke einfach nur. Sie sitzt wieder auf mir und es scheint, als reite sie um die Wette.
Ich sehe ihr zu. Irgendwann legt sie sich neben mich. "Früher hast Du immer gesagt,
wenn es dir gekommen ist." Aber das stimmt nicht.
Ich drehe mich auf die Seite und schlafe ein. Als ich aufwache, ist der Platz neben
mir leer. Ich schaue um mich und sehe Andy in der Küche. Sie kommt ins Zimmer und grinst
mich an. "Du hast so süß geschlafen, da mußte ich einfach ein Foto machen."
Nach zwei Tagen ist sie wieder verschwunden.

Es ist heiß draußen und ich genieße den Sommer. Ich gehe gerne zum Arbeiten und es
fällt mir leicht, wieder zu lernen. Die Berufsschule ist zwar langweilig, aber dafür
sehe ich dort immer Marco, meinen Kollegen.
Der Vollmond steht leer über der Mauer. Dahinter ist es schummrig dunkel. Gelborange
Lampen erleuchten den Grenzstreifen nur spärlich. Er wirkt friedlich. Er bewahrt mich vor
der Bundeswehr. Ich fühle mich sicher.
Am Wochenende laufe ich an der Mauer entlang. Graffiti ohne Ende. Alles ist bunt. Auf
dieser Kanalseite ist nur ein schmaler Grünstreifen. Dann kommt die Mauer. Hoch und
unüberwindbar. Auf einer alten Eisenbahnbrücke kann man in den Grenzstreifen sehen. Auf
der anderen Seite ist die Mauer weiß.
Jane
Nach den drei Monaten ziehe ich erst zu Siggi, dann zur Heidi. Aber nur für ein paar
Tage. Dieses Mal schlafe ich in der Küche auf dem Boden. Es ist kalt, aber hier störe
ich Heidi am wenigsten.
Nach ein paar Tagen bin ich wieder weg. Über eine Mitwohnzentrale habe ich ein Zimmer
bei einem Typen gefunden, der nachmittags noch im Bett lag, als ich anrief. Wir sehen uns
kaum. Er ist auch häufig nicht zu Hause. Dann kann ich seinen Fernseher benutzen. Sonst
sitze ich auf dem Bettkasten und höre meine Platten an. Und lese. Oder mache gar nichts.
Das Zimmer ist genau so breit, wie der selbstgebaute Bettkasten. Wenn ich meine Arme
ausstrecke, kann ich die beiden Wände berühren. Vor dem Bett steht ein Schrank und dann
kommt auch schon die Zimmertüre.
Ich liege auf dem Bett und denke an Jane. Im Sommer war sie mit ihrer Klasse auf
Abschlußfahrt in Berlin. Ich hatte mich abends in die Jugendherberge geschlichen und dann
einfach neben ihr im Bett übernachtet. Ich lächle und schaue aus dem Fenster. Es ist
grau. Und kalt. Hin und wieder höre ich ein Flugzeug, daß auf dem Flughafen Tempelhof
landet. Jane. Als ich von ihr ging, war ich so traurig, daß ich weinte. Verliebt? Ich
weiß es nicht.
Bei Peter in Kempten haben wir das erste Mal miteinander geschlafen. Jane war
verkrampft. Aber es ging. Irgendwie.
10. November
Ich trotte verschlafen am Flughafen Tempelhof entlang und sehe an einem Zeitungskiosk
die Titelseite der BZ. Die Mauer ist weg! Ach ja, die BZ, denke ich mir und steige in den
Bus. Auf dem Nachhauseweg fahre ich mit der U-Bahn zum Hermannplatz und werde beim
Aussteigen fast zerdrückt. Ich quetsche mich durch die Menschenmassen und versuche aus
dem Bahnhof zu kommen. Aber keine Chance. Menschen über Menschen strömen mir entgegen.
Ich kämpfe mich zurück zum Bahnsteig und drücke mich in eine U-Bahn der Gegenrichtung.
Als der Zug abfährt, ist der Waggon leer. Ruhe kehrt ein. Die Menschenmassen
verschwinden. Ich gehe in den Keller und hole mein Fahrrad hoch und strampele mich in der
Kälte zum Hermannplatz. Als ich an dem Platz ankomme sehe ich nur Menschen. Die Mauer ist
weg! kommt mir wieder in den Sinn. Ich gebe auf und fahre zurück.
Am 2. Januar kommt Jane mit dem Zug nach Berlin. Ich hole sie vom Bahnhof ab und freue
mich, sie endlich wieder zu sehen. Wir liegen auf der schmalen Matratze auf dem Bettkasten
und halten uns. Streicheln uns. Es ist schön. Wir schlafen nicht miteinander. Und ich
fühle mich gut.
Am nächsten Tag machen wir uns auf die Reise nach Gadebusch. Zu ihrer Oma. Wir
benutzen den neuen Grenzübergang Jannowitzbrücke. Der Zug rollt langsam aus dem Bahnhof
Lichtenberg. Draußen verschwinden die Plattenbauten von Hellersdorf. In Schwerin werden
wir von Ihren Verwandten am Bahnhof abgeholt. Sie begrüßen uns freundlich und wir fahren
noch eine Weile, bis wir an ihrem Haus eintreffen. Es ist das vorletzte Haus in einer
Reihe gleich aussehender Häuschen. Alle stehen auf einer Straßenseite. Insgesamt
vielleicht zwölf Stück. "Und das ist Gadebusch?" frage ich ungläubig. Jane
lacht mich aus. "Das ist nur eine Siedlung, die zu Gadebusch gehört." Es windet
schrecklich und die Kälte beißt sich in die Haut. Drinnen ist es schön warm.
Jane und ich liegen unter einer riesigen Decke und rutschen in der Mitte zusammen. Wir
streicheln uns sanft. Drücken uns. Küssen uns. Sie zieht mich aus und ich mache das
selbe bei ihr. Sie setzt sich auf mich und mein S*****z gleitet schnell in sie. Im
Rhythmus bewegen wir uns. Wir schwitzen und mir kommt es. Aber ich sage es ihr nicht. Sie
macht weiter. Auf und ab. Irgendwann liegt sie auf mir und wir drehen uns um. Sie
umschließt mich mit ihren Armen und Beinen und wir bewegen uns wieder. Meine Schläfen
pochen. Unsere verschwitzte Haut klebt aneinander. Mein Atem wird immer schneller. Ich
keuche und dann zieht sich mein Körper für einen Moment zusammen. Ich bleibe auf Jane
liegen und sie streichelt meinen Rücken. Wir küssen uns. Sie lächelt. Es geht mir gut.
Der Tote
"Los steh auf, gleich kommt der Krankenwagen, geh runter und zeige ihnen, wo es
lang geht. Da drüben liegt ein Toter!" schreit mein Vermieter während er über mein
Bett trampelt. Er verschwindet genau so schnell, wie er herein gestürmt kam. Ich ziehe
mich schnell an und taumle noch halb verschlafen die Treppen hinunter. Wieso kommt ein
Krankenwagen, wenn da ein Toter liegt. Ich sehe noch nicht richtig, aber der Krankenwagen
ist ja nicht zu überhören. Ich winke ihn heran. "Vierte Etage links." Die zwei
Sanitäter stürmen nach oben. Ich gehe langsam hinterher. Als ich oben ankomme steht die
Zimmertüre offen. Ich schaue hinein und sehe einen Mann, der einen Arm seltsam nach oben
hält. Sein Gesicht ist fahlgelb und eine schleimige Flüssigkeit läuft aus seinem Mund.
"Da können wir nichts mehr machen, der ist ja schon steif" sagen die
Sanitäter, als sie aus dem Zimmer kommen. Sie schließen die Türe. Es klingelt. Die
Polizei. Sie unterhalten sich mit den Sanitätern und verabschieden sie. Die beiden
Polizisten stehen im Flur. "Wir müssen jetzt auf die Kripo warten." Ich sitze
in der Küche, aber mein Vermieter schickt mich in mein Zimmer. Also warte ich hier.
Worauf eigentlich. Die Kripo stellt mir lauter Fragen. Ich beantworte sie soweit ich kann.
Zwei Männer in schwarzen Anzügen kommen in die Wohnung. Sie haben eine silberne
Blechkiste dabei. Wenig später verschwinden sie wieder. Mit dem Toten. Als die Kripo weg
ist, schiebt mein Vermieter die Platte des Beistellherdes auf die Seite und holt eine
Tüte mit weißem Pulver hervor. "Wenn die das gefunden hätten, dann wäre was los
hier" grinst der Typ, zieht sich an und läßt mich allein zurück.
Ich gehe durch die dunklen Straßen. Es wird schon früh dunkel jetzt. Die Hand. Sie
hing so seltsam in der Luft. Ich stehe vor dem großen braunen Haufen Erde. Der Sarg wird
hinunter gelassen. Angelika steht neben mir. Sie verteilt die Sterbebilder. Tränen laufen
mir über die Wangen. Ich schrecke hoch. Ich gehe langsam die Treppen hinauf.
Die Zimmertüre ist halb offen. Ich sehe das Sofa. Der Tote. Ich gehe in das Zimmer.
Mir ist übel. Und kalt. Ich zittere und gehe wieder hinaus. Ich lege mich auf mein Bett.
Ich schließe die Augen und sehe diesen Toten. Ich wälze mich hin und her. Mache Licht.
Aber es hilft nichts. Ich ziehe mich an und gehe in eine Kneipe. Ich trinke irgendwas und
komme irgendwann wieder in diese Wohnung. Der Typ war da. Seine Sachen fehlen. Ein Zettel.
Bin erst einmal bei meiner Freundin. Ich bin allein.
Moabit
Anfang April 1990 zieht ein Freund von Siggi zurück nach Würzburg. Und so bekomme
ich seine Wohnung. Wohnung kann man das nicht nennen. Ein Zimmer, das höher als breit
ist, eine Küche mit Duschkabine, Außentoilette. Aber Zentralheizung. Ich streiche die
Wände und wollte ein Kaminrot in die weiße Farbe mischen. Als die Farbe trocken ist, ist
mein Wohn-Schlaf-Zimmer hellrosa. Die Küche lasse ich, wie sie ist. Ich koche sowieso
nie.
Langsam kommt der Sommer dieses Jahr. Es wird wärmer und ich lerne beim Baden auf die
Abschlußprüfung. Noch wenige Wochen, und ich habe die Ausbildung endlich hinter mir.
Seit Mai bin ich nun schon in der Import-Abteilung. Ich habe Glück, daß sie mich
übernehmen.
Ich sitze in einem großen Raum. Er erinnert mich an das Klassenzimmer in der siebten.
Die Prüfungsbögen werden ausgegeben. Meine Hände sind feucht. Ich fange an. Vier
Stunden später gebe ich meine Unterlagen ab. Ich habe ein gutes Gefühl. Außer in
Englisch.
Zur mündlichen Prüfung muß ich nach Steglitz. Ein Kollege aus der Schadensabteilung
sitzt in meinem Prüfungsausschuß. Der Vorsitzende bemerkt es und meint nur, daß mein
Kollege dann eben nichts fragen darf. Es könnte ja abgesprochen sein. Ich atme auf.
Versicherungen habe ich überhaupt nicht gelernt.
Auf dem Weg zu Schenker jubiliere ich innerlich. Jetzt habe ich es endlich geschafft.
Endlich.
Edith
"Los, raff dich auf." Siggi nervt. Es ist Sonnabend gegen elf, als er
anruft. "Das wird 'ne tolle Party." Ich lasse mich überreden und wir gehen zu
einer seiner unzähligen Freundinnen. "Und, hast du mit der auch schon?"
"Na klar, die würde ich ja sofort heiraten." Siggi eben. Wir kommen in ihre
Wohnung. Es stinkt entsetzlich nach Rauch. Ich sehe kaum etwas. In der Küche ist seine
Freundin. Sie stürmt auf mich zu, drückt mir einen Kuß auf die Wange und drängt sich
dann an mir vorbei, um Siggi zu umarmen. In der Küche sitzt noch eine Frau. Kurze graue
Haare. Und lächelt mich an. Sie ist mir gleich sympathisch. Ich setze mich zu ihr und wir
unterhalten uns. Siggi ist betrunken. Lautes Lachen tönt aus dem Nebenzimmer. Ich fühle
mich unwohl. "Wir können das ja mal wiederholen, wenn du willst" sagt Edith,
kurz bevor ich mich aus der Wohnung davonschleiche.
Eine Woche später rufe ich sie an. Wir treffen uns in der O-Bar und quatschen und
quatschen. Ich kann mich gar nicht erinnern, mich je so gut unterhalten zu haben. Es kommt
mir vor, als würde ich Edith schon seit Jahren kennen. Wir gehen zu ihr nach Hause und
rauchen eine Tüte. Der Geschmack ist angenehm. Aber ich werde nicht high. Ich will mich
unter Kontrolle haben.
Wir sehen uns jetzt fast jedes Wochenende. Sonnabend auf Sonntag übernachte ich
manchmal bei Edith. Dann muß ich nicht von Kreuzberg zurück nach Moabit fahren.
Ich liege neben ihr und starre an die Decke. "Du, ich mag dich ganz gerne."
Was? Ich atme flach und warte ab, was kommt. Ihre Hand gleitet über meine nackte Brust.
Es fühlt sich schön an. Sie streichelt mich weiter und ich umarme sie einfach. Wir
halten uns eine Weile und dann küßt mich Edith auf den Mund. Wir küssen uns und Edith
zieht mich aus. Und sich selbst.
Ich muß fast loslachen, als Edith auf mir anfängt zu reiten. Ihre Brüste hüpfen
auf und ab und ich verfolge sie auf ihrer Reise. Irgendwann keucht Edith lauter und läßt
sich auf mich niedersinken. Vorbei.
Als ich am Montag von der Arbeit zurückkomme, liegt eine Karte in meinem Briefkasten.
Edith. Das letzte Wochenende mit Dir war wunderschön. Sie ist verliebt. In mich. Hm.
Der Anruf
"Nur wenn Du nichts dagegen hast." "Nein, natürlich nicht"
antworte ich apathisch. Ich will ihn gar nicht sehen. Mein Körper zittert und ich werde
nervös. Helmut hat angerufen. Woher auch immer er die Telefon-Nummer hat.
Ich fahre zum Flughafen und hole ihn ab. Er strahlt mich an. Er scheint sich ja riesig
zu freuen, mich zu sehen. Irgendwie freue ich mich auch, einen Bekannten aus dem Allgäu
wieder zu sehen. Er ist ja eigentlich ein netter Kerl.
Nachmittags fahren wir zum Flughafensee. Die meisten baden dort nackt. Ich sitze auf
meinem Handtuch und frage ihn "willst du nicht deine Badehose ausziehen?"
"Nein, weißt Du..." druckst er herum "ich habe nicht so einen großen. Wie
Du, Du kannst dich nackt schon zeigen, aber mir ist das peinlich." Ich fühle mich
gut. Ich kann mich nackt zeigen. Und meiner ist groß. Seiner nicht. Ich grinse und ziehe
meine Badehose aus. Es ist heiß und ich verschwinde im Wasser, um mich abzukühlen.
Ich liege nackt in der prallen Mittagssonne und genieße die Hitze. Die Sonne brennt
in mein Gesicht. Mein Körper heizt sich auf und ab und zu spüre ich einen Hauch von Wind
über meine Haut gleiten. Es fühlt sich an wie streicheln. Sanft. Über meine Brust.
Meine Schenkel. Meinen S*****z. Helmut starrt meinen Körper an. Ich kann seine Augen
sehen, wie sie auf meinem Körper haften bleiben.
Er wird rot, als er bemerkt, daß ich ihn beobachte. "Laß uns was trinken
gehen" sagt Helmut schwitzend zu mir. Ich stimme zu und ich ziehe mich an. Wir setzen
uns in einen Biergarten und reden über das Allgäu. "Dein Bruder ist seit April 1989
spurlos verschwunden. Keiner weiß wohin." Ich mache mir keine Gedanken um ihn. Er
wird es schon schaffen.
Abends sitzen wir vor dem Fernseher. Er bietet mir unentwegt Zigaretten an. Ich nehme
sie, weil ich mir eigene kaum leisten kann. Ich knie auf der Matratze und verrenke mich
beim Eincremen. "Ich kann das gar nicht sehen, komm, ich helfe Dir." Helmut
nimmt die Creme und verteilt sie auf meiner heißen Haut. "Du hast einen ganz
schönen Sonnenbrand." Ich schlafe fast ein, es fühlt sich gut an, gestreichelt zu
werden. Als er mit dem Rücken fertig ist, zieht Helmut meine Shorts aus und cremt meine
A****b****n und meine Beine ein. Er dreht mich um und ich lasse es geschehen. Ich spüre
seine Hand auf meinem Schenkel. Er streichelt ihn und mein S*****z wird schlagartig steif.
"Tun was nochn bißchen?" Du bist ja schon dabei. Ich spiele mit und
fühle mich wie damals im Heim. Er reibt meinen S*****z auf und ab und es kommt mir
schnell. Ich lege mich auf die Seite und schlafe erschöpft ein.
Vor seiner Abreise gibt mir Helmut dreihundert Mark. "Wofür?" "Na
dafür, daß ich bei dir wohnen konnte und kein Hotel bezahlen mußte." "Du hast
doch schon alles Essen und die Zigaretten bezahlt." "Das ist schon okay. Du
kannst es gut brauchen." Ja. Kann ich.
Als ich wieder zu Hause bin, fühle ich mich leer. Es ist still in der Wohnung. Ich
rolle mich auf dem Bett zusammen.. Meine Mutter kommt in meine Gedanken und ich fühle
mich, als würde ich in ihrem Schoß liegen. Ich bin allein. Ich weine nicht. Ich habe
keine Tränen mehr. Habe ich zu viel geweint? Sind Tränen begrenzt?
Amsterdam
Es ist früh am Morgen, als wir in Amsterdam eintreffen. Siggi fährt und ich suche
nach den Verkehrsschildern. Heidi und Siggis momentane Freundin liegen auf der
Rücksitzbank und schlafen. Ich kann Siggis Freundin nicht ausstehen. Sie weiß alles.
Endlich finden wir eine Unterkunft. Ein Schlafraum mit fünf Betten. Die Matratzen
sind völlig durchgelegen, aber es ist billig. Wir schlendern durch die Gassen Amsterdams
und Heidi fotografiert alles und jeden. "He Steven, was ist denn das?" Ich drehe
mich um. Klick. "Hereingefallen!" lacht Heidi laut los und sucht schon ein neues
Ziel.

Wir gehen in einen Coffee-Shop und der Barkeeper legt uns gleich eine Preisliste vor.
Gras bis zum Abwinken. Und völlig legal. Siggi kauft ein paar Gramm und wir setzen uns
weiter nach hinten.
Siggis Freundin baut sich gleich eine große Tüte und zieht und zieht und zieht.
Siggi schaut ihr dabei zu. "Gleich kippt sie um" sage ich grinsend zu Siggi und
nicht viel später landet sie tatsächlich fast auf dem Boden. Siggi und ich bringen sie
nach draußen und Heidi bleibt dann bei ihr.
Wir gehen wieder hinein und trinken unsere Cola weiter. "Was findest du nur an
der?" "Naja, sie f*ckt gut" spricht Siggi etwas undeutlich und grinst dann
in sich hinein.
Am nächsten Tag gehen wir zu Madame Tussaud. Die Wachsfiguren sehen teilweise
wirklich echt aus. Manchmal fast zu echt. Vor mir bestaunt eine Familie die Kunststücke.
Ihr Sohn scheint sich zu langweilen. Er schaut nur hier und da kurz hin und trottet dann
gedankenverloren seinen Eltern hinterher. Er ist ungefähr so groß wie ich. Dunkle Haare
und ein schmales Gesicht. Ich beobachte ihn, wie er durch die Gänge geht. Seine
A****b****n bewegen sich auf und ab. Plötzlich bleibt der Junge stehen und dreht sich um.
Wir schauen uns in die Augen. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus. Ich spüre, wie
ich rot werde und blicke dann schnell von ihm weg. "Was rennst Du denn so" ruft
Siggi mir zu. Ich warte auf die anderen und sehe, wie der Junge hinter einer Wachsfigur
verschwindet.
Ich liege in dieser Matratzenmulde und kann mich kaum bewegen. Von draußen flackert
buntes Reklamelicht nach innen. Geräusche von der Straße tönen dumpf herauf. Es ist
heiß und ich schwitze. Ich schaue in die Augen des Jungen von heute Nachmittag. Sie
ziehen mich immer näher zu sich heran. Unsere Gesichter sind so nah, daß ich seinen Atem
spüren kann.
Lautes Hupen reißt mich aus meinen Träumen. Wenn ich die Augen schließe, tauchen
die Augen vor mir auf. Ich bin ganz ruhig. Ich spüre meinen Körper nicht. Meine Gedanken
entschweben. Meine Augen brennen. Ich starre hinaus in die Nacht. Aber ich sehe nichts.
Alle Jahre wieder
Siggi ist nicht mehr mit Frau Alleswissen zusammen. Trotzdem ist sie immer mit dabei,
wenn ich mit Siggi unterwegs bin.
Sie steht vor mir und textet mich zu. Ich höre nur halb zu und nicke ab und zu.
"Ich könnte schwören, daß du bald dein Coming Out hast." Ich erstarre.
"Wie kommst du denn darauf?" versuche ich locker zu fragen. "Naja, könnte
doch sein." Sie grinst komisch und geht zu Siggi an die Bar.
Ich schleiche mich aus der Kneipe und verpasse eine U-Bahn. Ich laufe los. Ich laufe und
laufe. Coming Out. Ich? Es wird heller und die Sonne scheint mir bald darauf ins Gesicht.
Ich laufe über den Potsdamer Platz am Brandenburger Tor vorbei. Autos schlängeln sich
durch die schmale Maueröffnung. Knatternd verpesten die Trabbis die Luft. Ich gehe durch
den Tiergarten und atme die frische Morgenluft.
Meine Beine schmerzen und die Füße tun mir weh. Coming Out. Ich doch nicht. Wie
kommt sie darauf. Ich sehe doch gar nicht so aus. Ich rauche eine Zigarette nach der
anderen. Vor meinen Augen sehe ich Jungen. Immer nur Jungen. Schwul? Ich? Niemals. Nein.
Ich komme endlich in meiner Wohnung an und stelle mich vor den Spiegel über dem
Waschbecken. Meine Augen sind rot. Sie brennen. Ich bin müde und lege mich ins Bett. Aber
ich kann nicht richtig schlafen. Schwul?
Am 24. Dezember fahre ich nach Kreuzberg. Alle meine Freunde sind nach Wessiland.
Selbst Mary, Heidis Schwester ist ins Allgäu gefahren, obwohl sie erst dieses Jahr nach
Berlin gezogen ist. Wir waren manchmal zusammen unterwegs, wenn Edith mal alleine etwas
unternehmen wollte. Aber heute ist niemand hier. Ich gehe in die O-Bar und trinke ein paar
Bier. Und rauche Zigaretten. Die Stimmung ist gedrückt. Aber dafür ist die Musik schön
laut. Das übertönt alles. Danach gehe ich ins SO36. Abtanzen. Meine Ohren dröhnen, aber
ich will nicht von hier raus. Ich tanze. Wie lange nicht mehr. Meine Gedanken verschwinden
und ich spüre nur noch die Bässe in meinem Körper hämmern und die Lichter blitzen in
meinen Augen.
Als ich aus dem SO36 komme, ist es schon hell. Es ist schrecklich kalt. Vereinzelt
tanzen Schneeflocken durch die leeren Straßen. Ich steige in den 29er Bus und fahre zum
Zoo. Ich sehe oben aus dem Fenster und beobachte die wenigen Leute.
Kreiswehrersatzamt
Am 11. März 1991 bekomme ich vom Kreiswehrersatzamt Kempten Post. Anhörung zu einem
Bußgeldverfahren. Ich gehe in meinem Zimmer unruhig auf und ab. Panik ergreift mich. Was
soll ich tun. Mir fällt ein, daß ich vor kurzem in der taz etwas von einer
Beratungsstelle bei Problemen mit der Bundeswehr gelesen habe. Ich suche krampfhaft nach
der Ausgabe und finde sie endlich.
Am nächsten Tag fahre ich zu dieser Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und
Militär. Einen längeren Namen gab es wohl nicht. Ich betrete den Raum und ein paar junge
Männer schauen mich an. Ich druckse herum und einer mit langen blonden Haaren drückt mir
ein Buch in die Hand. "Wenn Du gar nichts machen willst, solltest Du dieses Buch
lesen!" Ich bezahle und gehe. Totalverweigerung steht oben in schwarzen dicken
Buchstaben. In der U-Bahn fange ich an zu lesen. Totale Kriegsdienstverweigerung.
Gefängnis. Arrestierung. Arrestzelle. Disziplinarstrafen. Ich schließe das Buch. Daheim
lege ich es ins Regal.
Das nächste Schreiben ist vom Kreiswehrersatzamt Berlin. ... ich beabsichtige, Sie am
01.10.1991 zum Grundwehrdienst einzuberufen. Mir wird schlecht. Mein Herz schlägt
schnell. Meine Hände werden feucht. Angstschweiß auf der Stirn. Warum bin ich denn nach
Berlin gezogen? Was wollen die von mir? Können die mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Am 30. August liegt er dann vor mir. Schwarz auf Weiß. Häßlich.
Einberufungsbescheid. Sie werden gebeten, sich am 01.10.1991 bis 18.00 Uhr bei
3./Jägerbataillon 581 in 0-1193 Berlin, Am Treptower Park 5 zum Diensteintritt zu
stellen.
Aber ich habe besseres zu tun. Am 1. Oktober sitze ich um halb elf in einem Flugzeug
der TWA und warte auf den Start. Ziel: Miami. Ich fühle mich gut. Die Bundeswehr kann
mich mal. Als das Flugzeug in Brüssel zwischenlandet, fühle ich mich sicher. Jetzt kann
nichts mehr schief gehen. Neben mir sitzt eine ältere Dame und redet pausenlos auf mich
ein. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und bestelle mir doch für 5 Dollar
Kopfhörer. Ich setze die Kopfhörer auf und stelle das Radio nur leise ein. Ruhe.
Brief an mich
Miami, 5.10.91
Endlich habe ich Zeit, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie wird es sein,
wenn ich wieder in Berlin bin. Leben, so wie bisher wird wegen den Problemen mit der
Bundeswehr wohl nicht möglich sein. Es ist nur die Frage, wie das Leben aussehen wird. Du
weißt, daß ich niemals diese Uniform anziehen werde, daß ich mich nie mehr zu irgend
etwas zwingen lasse. 10 Jahre war ich im Heim, 10 verlorene Jahre. Jeder Tag nach dem ich
aus dem Heim draußen war, war Leben, Freiheit, Tu was du willst, aus der
unendlichen Geschichte, das war möglich, bis zu dem Zeitpunkt, als in Kempten die
Erfassung dran war. Bei der Musterung rieten sie mir, ich sollte mich doch vorzeitig zum
Wehrdienst melden, um so der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Ich nickte zustimmend, doch
mein Entschluß nach Berlin zu ziehen stand längst fest. Berlin, 11. Mai 1989. Der Tag
der 2. Freiheit. Die Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitsuche überschatteten das
Gefühl der Freiheit nicht. Jeder Tag in Berlin war Leben. Ab 1. Juli hatte ich meine
Azubistelle bei Schenker, nicht mal zwei Monate gebraucht, um sie zu kriegen, war
natürlich eine Menge Glück dabei. Tja, nur bei der Wohnungssuche lief es nicht so ganz.
Erst Heidi, dann Ossastraße, dann Siggi, dann wieder Heidi, dann Lichtenrader Straße und
dann nach einem Jahr meine eigene Wohnung in Moabit. War natürlich wieder Glück, daß
Oliver wieder zurück nach Würzburg zog. Aber ich hatte es geschafft, allein, so wie
immer, seit dem 3.1.77, dem Tod meiner Mutter...
Miami, 7.10.91
Da bin ich wieder. Inzwischen geht es mir wieder besser. Die Sonne und die Ferne zur
Heimat machen frei. Ich freue mich auf zu Hause, weil es eben mein einziges Zuhause ist,
das ich habe. Und ich habe es selbst geschaffen. Ich freue mich auch auf Berlin, auf das
Weggehen, die Leute dort, ja es könnte eine schöne Zeit sein. Man macht sich Gedanken um
so einen Scheiß, wo doch das Leben dazu viel zu kurz ist. Ich bin sicher, daß ich eines
Tages darüber lachen werde. Oder auch nicht. Bundeswehr, nein danke. Wen soll ich denn
vor wem schon groß beschützen. Es gibt keine Bedrohung und selbst wenn, was solls.
Gäbe es keine Militärs, gäbe es auch keine Kriege. Fuck the Army. Es ist
niederschmetternd wenn man in der Glotze die Werbung für Kriegspielgeräte sieht. Hier
werden die Kinder zu Kämpfern erzogen. Krieg ist Abenteuer und macht Spaß. Nur der Sinn
und der Tod werden dabei vergessen. Man hat es im Golfkrieg gesehen. Tausende von Toten
für ? billiges Öl. The American Way of Life. Wenn ich in Berlin bin, werde ich wohl erst
einmal sehen, was die Wehrverwaltung geistreiches von sich gelassen hat. Vielleicht holen
sie mich ja gleich am Flughafen ab. Mal sehen. Deutschland verrecke!
Miami, 8.10.91
Jetzt regnet es schon den ganzen Tag, so daß man überhaupt nicht raus kann. Die
letzte Nacht habe ich ein gewaltiges Durcheinander von Vergangenem geträumt. Ich bin ja
nun kein Traumdeuter, aber komisch finde ich das schon. Zu Hause wird das Wetter wohl
nicht besser sein. Aber zu Hause ist es doch am Schönsten. Mir schwirren viel Gedanken
durch den Kopf. Mal aus der Vergangenheit, mal Zukunftsvisionen. Alles bunt gemischt. Die
Träume heute nacht. Das Fahrrad, das auseinanderfiel, aber trotzdem hielt. Mit Marco in
der Knabenrealschule in Kempten. Harry, der mir das Fahrrad wieder gab. Ich weiß nicht.
Ich denke an Manfred, der ja auch schon mit Champ hier in USA war. Er hat ja jetzt einen
Jungen. Ein Baby in dem Alter. Manne ist jetzt 23 Jahre alt und dieser Chaot mit dieser
Verantwortung. Aber ich denke gerne an die Zeit zurück, als er 3 Monate bei mir wohnte.
Tja, Manfred, manchmal würde ich mit Deinem Leben gerne tauschen, Deine Lockerheit und
Coolness, mit der Du durch Dein Leben gehst. Na, was solls, eines Tages werde ich
dem ganzen Zwang wohl auch entfliehen. Habe heute Saved by the Ring angesehen. Eine von
vielen Comedy-Serien im amerikanischen Fernsehen. Nachher kommt dann Growing Pains. Wohl
zwei der besten Sendungen, die ich hier gesehen habe. Das Fernsehen lenkt mich immer
wieder von meinen Grübeleien ab. Ich glaube, das ist gut so.
Miami, 9.10.91
Nachdem ich bei Schenker Miami angerufen habe, werde ich morgen möglichst früh
dorthin düsen. Brauche dringend Kohle, hoffe, daß die in Berlin mitmachen. Man wird
sehen. Ich denke viel an Berlin, merke, wie mir die Stadt fehlt. Werde wohl nicht mehr
für so lange Zeit verreisen. Ein Wochenende Amsterdam oder Hamburg, das ist okay. Zwei
Wochen Miami hätten auch gereicht. Nun ja, zu spät. Wenn ich an Siggi denke, schuftet
sich gerade einen ab. Jetzt weiß er, wie es ist, wenn man arbeiten muß, um zu leben. Bin
heute ziemlich ausgeglichen. Rede ich mir jedenfalls ein. Denke an zu Hause, an Mama und
Andreas. Wow, das war noch ein Leben. Lebensfroh und ausgeglichen. Die Geborgenheit, die
uns unsere Mutter gab. Tja, das ist das, was in meinem jetzigen Leben fehlt. Irgendwie
werde ich es schon schaffen, mal abgesehen davon, was mit der Bundeswehr passiert. Was ich
will, ist eigentlich nur meine Ruhe. Meine Bude ist okay. Die Arbeit ebenso. Es war bisher
ganz in Ordnung, wie sich das Leben so abspielte. Jetzt, wo es kälter wird in Deutschland
ist das Schönste eine warme Wohnung, wenn man am Fensterbrett nach draußen auf die vom
Wind gejagten Blätter sieht. Wenn es regnet und stürmt. Und wenn der Schnee fällt. Dann
nach draußen, frische Luft atmen. Lange Sonntagsspaziergänge. So könnte meine
unendliche Geschichte immer weiter gehen. Im Sommer baden, viel Radfahren, die neue Gegend
um Berlin erkunden. Viele sagen, das ist das 08/15-Leben. Aber ich brauche meine
Biedermeierecke und ich brauche meine Ausgeflipptheit.
Miami, 10.10.91
Bin heute vormittag bei Schenker Miami gewesen. Alles hat bestens geklappt. Jetzt bin
ich wenigstens finanziell hier in USA besser abgedeckt. Heute geht es mir blendend. Wenn
es morgen gut Wetter ist, werde ich mal nach Miami Beach flitzen. I feel good. Ja, heute
fühle ich mich wirklich gut. Yeah! Habe mir ein Buch gekauft. Der Junge und das Meer von
Tschingis Aitmatow.
Miami, 11.10.91
Heute war ich das erste Mal in meinem Leben am Atlantik. Das Wasser ist angenehm
temperiert und sehr sauber. Der Strand ist ziemlich leer gewesen aber toll war es
trotzdem. Wieder mal Sonne getankt und am Strand entlang geschlendert. Hatte heute Nacht
einen komischen Traum. Das Heim fuhr erst in einem Bus mit vielen Kids, dann die Pause und
die Pöbelei der Uniformierten, dann weiter im Schiff durch den Sturm mit den kleinen
Kindern. Dann in Rußland angekommen. Mit ein paar älteren in einem Pferdegespannaufbau
eingeschlossen gewesen, die Flucht daraus und das versuchte Ergreifen von den seltsamen
Leuten auf dem Marktplatz. Rannte um mein Leben. Habe die Jacke ausgezogen und hielt sie
so in der Hand beim wegrennen. Habe es aber geschafft, davon zu kommen und bin dann
aufgewacht. Vielleicht eine kleine Vorahnung auf Berlin. Wenn ich da auch davon renne und
es auch schaffe aber dann nicht aufwachen kann, weil es Realität ist? Hoffe ja immer
wieder, daß ich eines Tages aufwache, schweißgebadet, und mein jetziges Leben nur ein
(Alp-)Traum war. Bis dahin verziehe ich mich halt in mein Phantasia und lebe meine
unendliche Geschichte weiter.
Miami, 12.10.91
War heute den ganzen Nachmittag am Strand und habe mir einen leichten Sonnenbrand
geholt. Am Strand habe ich das Buch Der Junge und das Meer angefangen zu lesen. Es ist
sehr aufschlußreich. Bin total ausgelaugt von der Sonne. Aber der Strand, das Meer und
die unendliche Weite. An Land denkt man nicht an das Land, ist man aber auf dem Meer,
denkt man unentwegt an das Meer. Ein Satz aus dem Buch. Wie wahr. Genauso, wenn man von
Zuhause weg ist. Etwas Heimweh. Habe es nicht bereut, hierher zu fahren. Freue mich aber
auch auf das Zuhause, auf die Leute, wenn nur nicht die Ungewißheit wäre, was wohl
wirklich kommt. Aber zuversichtlich bin ich trotzdem. Wird schon schiefgehen.
Miami, 14.10.91
Habe das Buch Der Junge und das Meer zu Ende gelesen. die moralische Unbesiegbarkeit
des Menschen. Der alte Organ, Vetter Aki-Mylgun und Vater Emraijin, sie alle gehen den
freiwilligen Tod ins Wasser entgegen, um den Jungen Kirisk das Leben zu retten. Und dieser
einsame, verlassene Junge auf der unendlichen Weite des Meeres hat es geschafft, zurück
zu kehren. Aber auch sein Leben wird nie wieder so sein, wie es vor seiner Fahrt war. Aber
er hat noch seine Mutter, und das ist gut für ihn. Wenn ich von meiner Fahrt zurück
kehren werde, habe ich wohl außer ein paar Bekannten auch niemanden sonst. Ob sie mich
gleich am Flughafen mitnehmen? Ich weiß nicht, wie ich reagieren werde. Hat es denn einen
Sinn, sich in den ganzen Schwachsinn so hinein zu steigern. Viele Freunde können es nicht
verstehen. Ein Jahr, ein Jahr, sagen sie, bekommt man doch herum. Ein Jahr, ein Tag, jede
Sekunde, jeder Augenblick wäre verloren, eingesperrt. Unter Zwang. Heißt es dann Augen
zu und durch oder dagegen ankämpfen bis man es leid ist, bis man keine Kraft mehr hat,
bis sie einen dann klein bekommen haben, aufgeben, kapitulieren, sich fallen lassen. Warum
das alles, warum, warum wollen die mein Leben kaputt machen. Mein Leben. War es doch
schön.
Wann werde ich endlich Ruhe finden. Wenn ich wieder flüchte, ein Leben lang auf der
Flucht, oder kann man das überhaupt durchstehen, erst Bunker bei den Militärs, dann
Gefängnis. Ein Jahr Gefängnis dafür, daß man sich zu nichts zwingen lassen will. Ich
fühle unendliche Leere bei dem Gedanken, daß es so etwas überhaupt gibt. Wie soll man
das durchstehen. Oh Stefan, sie zerstören dein Leben und du kannst nicht dagegen tun.
Bist machtlos, fühlst dich einsam, verlassen und allein. Wo verdammt noch mal ist der
Sinn, wo. Es gibt ihn nicht. Werde ich all die Schikanen durchstehen, vielleicht werde ich
dann total herzlos und kalt, aber mein Inneres, meine Gedanken, meine Träume, meine
Wünsche, das alles werden sie niemals zerstören können. Ich möchte durchhalten bis zum
Schluß, wie der Junge eines Morgens das rettende Ufer erblicken und frei sein. Eines
Tages wird die Zeit kommen und dann wird es für mich hoffentlich noch nicht zu spät
sein.
Miami, 17.10.91
Habe heute nacht extrem schlecht geschlafen. Meine Gedanken kreisen zwischen der
Vergangenheit und der Zukunft und bleiben an dem Gedanken an die Bundeswehr stets haften.
Diese Nacht habe ich wieder von den wildesten Verfolgungsjagden geträumt. Und diesmal
haben sie sogar auf mich geschossen. In der Nacht auf den 16. habe ich vor mich
hingeträumt, ich wäre noch mal 15 oder 16 Jahre alt und noch im Heim. Irgendwie war es
ein so beruhigendes Gefühl, angenehm und so vertraut. Eigenartig. Seit ich hier bin,
kommen mir die seltsamsten Einfälle, die ich in Berlin nie gehabt hätte. Oh Steven,
irgendwie wirst du es schaffen. Müssen. Dont panic. Mal sehen. Hoffe nur, es kommt
nicht so schlimm, wie ich es mir vorstelle. Einsam, verlassen und allein, das ginge ja
noch, aber was wirklich kommt, muß ich abwarten.
Miami, 19.10.91
Denke jetzt immer mehr an die ganze Scheiße mit der Bundeswehr, kann schon gar nicht
mehr richtig einschlafen. Noch drei Tage, dann kommt die Katastrophe, oder nicht. Warte
ab. Und mache dich nicht verrückt. Male mir in Gedanken die absoluten Horrorvisionen aus.
Habe das Buch Wanderer kommst du nach Spa... von Böll gelesen und bin überzeugter denn
je, daß man sich nicht zu Dingen zwingen lassen darf, die gegen jegliche menschliche
Vernunft und gegen das Gewissen angehen. Ich werde mit sehr gemischten Gefühlen im
Flugzeug sitzen. Ich werde meine unendliche Geschichte weiterleben und niemand kann mich
daran hindern. Sie können mich einsperren, foltern, erschießen, - aber meine eigene
unendliche Geschichte wird ewig weiterleben in meinen Träumen, in der Phantasie und
irgendwo, irgendwann wird irgendwer diese unendliche Geschichte weiterleben. Auch für
mich. Und niemand, kein Gesetz, keine Bundeswehr kann etwas dagegen tun. Sie werden eines
Tages vergehen und werden von niemand betrauert. Aber meine Träume leben ewig.
Flug TW734, 22.10.91
Sitze im Flugzeug von Miami nach New York und fühle mich so unendlich frei. Mache mir
kaum noch Gedanken über das, was in Germany passieren wird. Noch besteht die
Möglichkeit, in New York auszusteigen. Aber was bringt das schon. Vorhin sind wir über
Cape Caneveral geflogen. Das wäre auch ein Flug wert. Ins All. Weg von der abgenutzten
Erde. Berlin, wie empfängst du mich? Friedlich oder mit Gewalt? Ich möchte friedlich
nach Hause. Meine Ruhe haben. Wahrscheinlich die letzte Ruhe vor dem letzten großen
Sturm. Und er wird brutal werden. Ein Kampf auf Leben und Tod. Wer wird gewinnen. Keiner.
Dem Staat wird es letztendlich egal sein. Ihn kriegt man nicht klein. Und ich werde wohl
verlieren. Hoffnung bleibt da wenig. Aber muß ich nicht kämpfen, dagegen, für mein
Leben, für mein freies Leben? Bis zum Schluß muß ich kämpfen, durchhalten,
standhalten, mich nicht kleinkriegen lassen. doch wer weiß schon, was mich hinterher
erwartet. Nach der Schlacht räumt man die Trümmer weg, falls man nicht zu schwach ist.
Falls man es bis hierhin überhaupt überlebt. Nur, wo ist der Sinn dabei, sinnlos,
absolut sinnlos werde ich gegen diesen Staat angehen. Hoffnungslos, weil man vorher schon
weiß, man wird verlieren. Aber falls doch, wer weiß das schon. Vielleicht ein winziger
Fleck Hoffnung. Ein erschreckend winziger Fleck Hoffnung. Aber doch Hoffnung.
Flug TW768, 22.10.91
Nun geht es wieder Richtung Europa. Hier im Flugzeug spüre ich langsam die
Gleichgültigkeit hochkommen. Es ist mir inzwischen egal, was morgen früh in Berlin
passieren wird. Ich bin es leid, mir pausenlos Gedanken über weiß Gott was zu machen.
Ich werde mich fallen lassen wie ein Apfel vom Baum. Bin gespannt, wie und wo ich landen
werde. Habe noch mal das Buch Der Junge und das Meer gelesen. Das gibt Kraft. Durchhalten
bis zum letzten. Wenn sie mir nur meine Träume lassen. Ich habe jetzt keine Lust mehr,
noch irgend etwas aufzuschreiben. Machs gut Stefan. Viel Glück und: Tu was du
willst. Tu was du willst. Tja...
Brüssel, 23.10.91
Natürlich fliege ich weiter nach Berlin. Hoffnungslose Hoffnung. Der ewigen Grübelei
müde, spielt alles plötzlich keine Rolle mehr. Das Leben ist mir gleich geworden. Egal.
Sinnlos. Und doch ist da dieser Lichtblick, nur daran kann sich meine Hoffnung klammern,
eine schwache und unwahrscheinliche, fast unmögliche zwar, und doch eine Hoffnung.
Berlin, 23.10.91
Noch wenige Augenblicke. Mach die Augen zu. Denke an deine Träume, Deine
Phantasie...
Und ich wollte doch nur leben.
KDV-Beratung
Ich gehe durch die Paßkontrollanlagen. Sie wollen noch nicht einmal meinen Ausweis
sehen. Alles ist ruhig. Außer den Tausenden Fluggästen um mich herum. Keine Polizei
stürmt auf mich zu. Ich verlasse das Flughafengebäude und fahre mit dem Bus zu meiner
Wohnung.
Ich packe meine Tasche aus. Sehe immer wieder aus dem Fenster. Alles ist still.
Langsam werde ich ruhiger. Ich stopfe meine Schmutzwäsche in einen großen Beutel und
gehe zum Waschsalon. Ein paar Polizeiautos fahren durch die Straßen, aber sie scheinen
von mir keine Notiz zu nehmen.
Am ersten Dienstag im November gehe ich wieder zur Kampagne gegen Wehrpflicht,
Zwangsdienste und Militär. Dieses Mal sind andere Leute da und sie sind mir sehr
sympathisch. Wir unterhalten uns über meine Situation. Sie nicken verständnisvoll, wenn
ich ihnen sage, daß ich nicht zur Bundeswehr kann. Sie decken mich mit Info-Materialien
ein und sagen mir ihre Unterstützung zu.
Ich gehe jetzt jeden Dienstag zur Kampagne. Ich höre mir die Gruppenberatung an.
Immer wieder. Bald kann ich sie mitsprechen. Frank lächelt mich immer an, wenn ich komme.
Wir unterhalten uns. Er umarmt mich. Drückt mich. Ich bekomme manchmal kaum noch Luft,
aber es fühlt sich gut an.
Feldjäger
Es klopft an die Türe. Ich schrecke hoch. Es ist Sonntag mittag. Wer ist das denn?
Herzklopfen. Es klopft noch mal. Leise stehe ich auf und spähe durch einen Spalt zwischen
Vorhang und Wand nach draußen in den Hinterhof. Ein Mann steht vor meinem Fenster und
versucht in mein Zimmer zu sehen. Wie in Zeitlupe gehe ich vom Fenster zurück. Zittern.
Meine Schläfen pulsieren. Wieder Klopfen. Ans Fenster und an die Türe. Also sind es
zwei. Feldjäger.
Dann Ruhe. Ich sehe die beiden im Vorderhaus verschwinden und atme auf. Ich öffne
leise meine Wohnungstüre und gehe in den Hinterhof. Da öffnet sich die Türe zum
Vorderhaus und die beiden Männer kommen zurück. Mein Herzschlag rast. Ich gehe langsam
weiter Richtung Vorderhaus. Sie kommen auf mich zu. Ich will wegrennen, bleibe aber vor
ihnen stehen. "Wohnt hier ein Herr Strauch?" fragt einer der beiden und zeigt
auf meine Fenster. "Ja, der wohnt hier" sage ich ruhig und gehe weiter. Die
Feldjäger bleiben stehen. Als die große Haustüre hinter mir zuschlägt fange ich an zu
rennen. Ich renne die Straße vor, biege um die Ecke und verschwinde kurz darauf im
U-Bahnhof. Eine U-Bahn steht im Bahnhof. Ich springe hinein. "Zurückbleiben
bitte" tönt es durch den leeren Bahnhof. Der Zug fährt an. Wird schneller.
Verschwindet im dunklen Tunnel.
Ich zittere am ganzen Körper. Mir fällt ein, daß ich keine Fahrkarte dabei habe und
steige deshalb am nächsten Bahnhof wieder aus. Ich gehe über die Putlitzbrücke zurück
zu meiner Wohnung. Das Auto, das eben noch vor dem Haus stand ist verschwunden. Sie sind
weg. Ich fange an zu lachen. Oh Gott, sind die dämlich.
Am 4. Mai 1992 um kurz nach sieben taucht eine Gestalt vor meinem Fenster auf. Kurz
darauf hämmert es gegen die Wohnungstüre. Die Feldjäger diesmal sind nicht so ruhig.
Zumindest der eine. Er schreit im Hausgang und schlägt mir fast die Türe ein. Ich öffne
und frage, was sie wollen. "Das wissen sie ganz genau!" schreit der Feldjäger.
"Nein" antworte ich mit völlig unschuldiger Stimme. Das bringt ihn aus der
Fassung. "Wenn sie nicht sofort herauskommen, rufe ich die Polizei!"
"Schreien sie nicht so, ich bin nicht taub" antworte ich ruhig und "machen
sie das ruhig."
Ich schließe die Türe, rufe bei Mary an und gebe ihr Bescheid. Nach dem letzten
Feldjägerbesuch habe ich mit Mary abgesprochen, daß sie die Leute von der Kampagne
informiert.
Um halb acht klopft es wieder an der Türe. "Hier ist die Polizei, wenn sie nicht
freiwillig herauskommen, holen wir sie heraus, notfalls mit Gewalt." Ich weiß, daß
sie es tun würden. Ich stecke meine Geldbörse und ein paar Zigaretten ein und gehe aus
meiner Wohnung. Schließe ab. Und nun? Der Polizist schüttelt vor Verwunderung den Kopf.
Die Feldjäger nehmen mich in ihre Mitte und begleiten mich nach draußen. Mitten auf der
Straße steht ein orangefarbener Golf mit Strausberger Kennzeichen. Ich muß meine Hände
auf die Motorhaube legen und die Beine spreizen. Ich lache und sage ihnen, daß sie sich
nicht lächerlich machen sollen. Der harte Feldjäger raunzt irgend etwas
unverständliches zurück, während er meinen Körper abtastet. Ich fange an zu lachen.
Wir fahren einen Umweg über Ostberlin nach Treptow, obwohl es durch die westliche
City viel kürzer wäre. In der Kaserne schauen mich die Anwesenden mit großen Augen an.
Die Feldjäger fragen nach meinem Vorgesetzten. Aber er scheint nicht da zu sein. Also
fahren wir wieder aus der Kaserne heraus. Zurück nach Moabit. "Bringen sie mich
jetzt wieder nach Hause?" frage ich mit einem Lächeln die Feldjäger. Aber sie
antworten nicht.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten halten wir an. Der harte Feldjäger verschwindet im
Gerichtsgebäude. Ich kurbele das Fenster herunter und der andere bekommt eine
Panikattacke. "Schließen sie sofort das Fenster!" sagt er fast kleinlaut.
"Hast Du Angst, daß ich die Türe von außen öffne?" Er schweigt. "Keine
Sorge, ich will mich ja nicht von Euch auf der Flucht von hinten erschießen lassen."
Er schweigt weiter.
Der andere kommt zurück und wir fahren nach Potsdam. "Ist wohl doch kein
Haftbefehl erlassen worden?" frage ich überfreundlich. Der harte Feldjäger knurrt
vor sich hin.
In Potsdam werde ich in eine Arrestzelle gesteckt. Sie ist winzig. Inzwischen ist es
schon elf und ich werde langsam müde. Trotzdem kann ich die Nacht nicht richtig schlafen.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr geht die Türe auf und eine freundliche Stimme fragt
mich, ob ich frühstücken möchte. Ich lehne ab und unterschreibe dafür. Ich sitze in
der Zelle und warte. Kurz nach zehn werde ich von vier Bundeswehrangehörigen aus meiner
Kaserne in einem alten Wartburg in die Kaserne gebracht. Dort stehe ich auch nur herum. Im
einem langen kahlen Flur. An den Wänden hängt ein Stadtplan. Berlin, Hauptstadt der DDR
steht groß oben drüber. Die Fläche von West-Berlin ist nur ockergelb. Keine Straßen.
Keine Plätze. Deshalb die Umwege. Die kennen sich in West-Berlin nicht aus. Ich grinse.
Nach drei Stunden sinnlosen Herumstehens geht die Fahrt weiter. Wir fahren zum
Amtsgericht Tiergarten, dann zum Schnellgericht in Schöneberg. Die vier Uniformierten
sagten immer nur etwas von einem Haftbefehl, aber irgendwie scheint sich kein Gericht
tatsächlich für mich zu interessieren.
Gegen vier Uhr nachmittags treffen wir nach der Stadtrundfahrt wieder in der Kaserne
ein. Ein Uniformierter stellt sich vor mich auf und sagt übertrieben laut, ich solle ihm
folgen. Wir sitzen in einem kleinen Raum. Das Büro ist spärlich eingerichtet und sieht
aus, als sei es aus den Fünfzigern.
Er holt einen Block aus einer Schublade. Niederschrift über die Vernehmung eines
Soldaten steht da. Er fängt an zu schreiben. Schreibt meine Personalien auf. Fragt mich
nach der Adresse meiner Eltern. "Warum?" "Ich muß das hier
ausfüllen." "Für meine Todesbenachrichtigung, ich weiß."
"Und?" er sieht mich fast schon flehend an. "Ich weiß sie nicht"
lüge ich ihn an und er schreibt unbekannt. "Wollen sie aussagen?" fragt mich
der Uniformierte und sagt gleich dazu, daß es besser ist, wenn ich nichts sage, dann
könnte ich gleich gehen. Ich stimme zu. "Dann müssen sie hier unterschreiben."
"Nur, wenn ich eine Kopie davon erhalte." "Wir haben keinen Kopierer."
Also schreibt er es noch einmal ab und drückt mir die Abschrift in die Hand. Dann
unterschreibe ich.
Er nimmt wieder eine offizielle Haltung ein. "Ich befehle ihnen, sich morgen zum
Dienstantritt um 6.30 zum Dienst zu melden." "Ich nehme es zur Kenntnis"
antworte ich und dann gehe ich durch die Kasernenpforte, biege um die Ecke und dann
schreit es aus mir heraus. Ich springe durch die Luft und renne einem Bus hinterher.
Völlig übermütig komme ich im Kampagnenbüro an und erzähle von meinem Erlebnis.
"Da bist Du ja endlich. Wir haben dort angerufen, aber sie wollten dich nicht ans
Telefon holen. Das letzte, was sie sagten, war, daß Jäger Strauch um 16.45 Uhr die
Kaserne verlassen hat." Frank spricht wie ein Soldat. Wir lachen und fallen uns in
die Arme. "Paß nur auf, die können morgen früh schon wieder bei Dir vor der Türe
stehen" sagt einer der Berater. Mein Lachen erstirbt.
Ich gehe mit Frank in den Badenschen Hof nebenan. Ulla kommt auch mit. Wir unterhalten
uns. Lange. Sehr lange. "Ich habe alles versucht, Widerspruch, Klage,
Entlassungsantrag, nichts, nichts hilft. Ich habe Angst." Ich bin am verzweifeln.
Ulla schaut mich irgendwie traurig an. Frank drückt meinen Oberarm. "Du wirst es
schaffen! Wir helfen Dir. Was immer auch passiert." Ich könnte heulen. Aber meine
Augen bleiben trocken.
Verstecken
"Kann ich bei Dir eine Zeitlang wohnen?" Edith schaut mich verwundert an und
läßt mich herein. Ich erzähle ihr von dem Feldjägereinsatz. "Ich kann jetzt nicht
zu Hause bleiben." Sie läßt mich bei ihr wohnen. Zum Glück. Ich gehe nicht zum
Arbeiten und kaum aus ihrer Wohnung hinaus. Wenn ich ein grün-weißes Auto sehe, zucke
ich zusammen. Ich habe das Gefühl, von allem und jedem verfolgt zu werden.
"Du kannst nicht ewig davon laufen." "Du hast ja recht. Aber..."
Mir fällt nichts ein. Sie hat ja wirklich recht. Also packe ich meine Sachen und fahre in
meine Wohnung und gehe wieder arbeiten.
Jedesmal wenn ich die Haustüre aufgehen höre, werde ich still. Gleich klopfen sie.
Wenn die Tritte dann leiser werden, zittere ich noch immer.
Ich stehe vor dem großen Eisentor, das fest verschlossen ist. Dahinter ist
Stacheldraht. Auf dem Weg und entlang der Kasernenmauer. Aus einigen Fenstern schauen
neugierige Soldaten. Aber irgendwer scheint sie zurück zu rufen. Das Kasernengebäude
wirkt verweist. Irgendwer zieht mich von dem Eisentor zurück. "Die dürfen
dich hier nicht sehen."

Am 1. Juli 1992 findet vor meiner Kaserne eine Demonstration gegen die Einberufung von
Wehrpflichtigen statt. Ich habe mich überreden lassen, etwas vor der Kaserne zu sagen.
Also halte ich meine Rede in einem Lautsprecherwagen. Ich fühle mich unwohl. So etwas
habe ich noch nie gemacht. Ich fange an. Lese meinen Text vor.
Mein Name ist Stefan Strauch. Ich bin 22 Jahre alt und ein sog. Wehrflüchtling aus
Westdeutschland. Nach meiner Erfassung und Musterung bin ich im Mai 1989 nach Berlin -
geflüchtet.
Nach dem ganzen Wiedervereinigungszirkus erhielt ich im Juli 1991 die Ankündigung zur
Einberufung. Meinen Zurückstellungsantrag beantwortete das Kreiswehrersatzamt mit meiner
Einberufung zum 1. Oktober 1991 in diese Kaserne.
Mein Widerspruch wurde mit der Begründung abgelehnt, daß mein Zurückstellungsantrag
angeblich nicht vorliegen würde. Daraufhin erhob ich Klage beim Verwaltungsgericht
Berlin, die im Februar 1992, wie sollte es auch anders sein, abgewiesen wurde.
Aber ich bin trotzdem nicht hingegangen, weil ich über mein Leben selbst entscheide,
weil ich jeden Kriegsdienst, mit oder ohne Waffe, ablehne, weil ich mich nicht von diesem
Staat als Mordinstrument mißbrauchen lasse, weil ich nicht das Recht habe, über andere
Menschenleben zu entscheiden.
Am Abend des 4. Mai 1992 holten mich dann zwei unheimlich motivierte Feldjäger mit
Polizeiverstärkung aus meiner Wohnung. Ich wurde zuerst in die Kaserne, dann nach Moabit
und anschließend in das Feldjäger-Depot nach Potsdam befördert.
Dort hatte ich die ehre, die Nacht in einer wahnsinnig tollen Arrest-Zelle zu
verbringen.
Am nächsten Tag ging die Irrfahrt von einem Gericht zum anderen weiter. Da jedoch
kein Gericht mich haben wollte, ging es wieder in die Kaserne zurück. Pünktlich zum
Dienstschluß wurde ich nach einer tiefgreifenden Belehrung vor die Türe gesetzt.
Seither warte ich auf meinen Prozeß. Denn jedem Totalverweigerer wird in der BRD das
Prozeß gemacht. Er wird verfolgt, kriminalisiert und - im Namen des Volkes - verurteilt.
Weil man dann vorbestraft ist, kann man sich eine Bewerbung bei Daimler Benz, MBB oder
BASF sparen.
Am 13. April 1992 verurteilte ein Berliner Gericht, nach 47 Jahren wieder das erste
mal, einen Totalverweigerer zu vier Monaten auf 2 Jahre Bewährung.
Das scheinbar milde Urteil kann durch eine zweite Einberufung zunichte gemacht werden.
Dann beginnt das ganze Theater nämlich von vorn.
Bleibt man bei der Totalverweigerung, kann man immer wieder und wieder verurteilt
werden, obwohl die Doppelbestrafung laut Grundgesetz eigentlich verboten ist.
Gerade zu paradox erscheinen die Urteile in den Mauerschützenprozessen. Den Soldaten
des verflossenen Gegners wird vorgeworfen, nicht über den Staat nachgedacht und das
Gewissen abgestellt zu haben.
Wer gibt den Wehrpflichtigen die Gewährleistung, daß zukünftige Richter das bei den
heutigen Soldaten nicht genau so sehen?
Haben wir nicht vor allem nach diesem Urteilen das Recht, oder vielmehr die Pflicht,
dieses Militärsystem in Frage zu stellen?
Auch in diesem unseren Lande setzt sich der Militärapparat über jedes Gewissen,
über jedes Denken und Fühlen kommentarlos hinweg.
Die freie Gewissensentscheidung ist für die Bundeswehr ersatzlos gestrichen. Noch
bevor man den jungen Leuten eine Chance auf Information läßt, werden sie ohne Rücksicht
auf Verluste, auf eine für den Rechtsstaat beschämende Art und Weise, eingezogen,
mundtot gemacht, um so freies Denken und Abwägen von Gut und Böse von vornherein
auszuschalten.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat die BRD aus guten Gründen auf eine direkte Beteiligung
an Kriegen verzichtet. Heute will die politische Klasse dieses Landes von solcher
Zurückhaltung nichts mehr wissen.
Jeder, der jetzt noch zur Bundeswehr geht, muß damit rechnen, in Kriegen sein Leben
zu lassen.
So aberwitzig es klingt: Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hat für die Bundeswehr
die Vorbereitung auf den Ernstfall Krieg erst richtig begonnen.
Denn die Pläne der Militärs für die Zukunft gehen über den Verteidigungsauftrag
weit hinaus: UNO-Einsätze, auch außerhalb des NATO-Gebietes. Schnelle Eingreif-Trupps,
zur Sicherung des freien Zugangs zu den Rohstoffreserven dieser Welt.
Das heißt: Militäreinsätze für billiges Öl, damit wir auch morgen noch kraftvoll
Gas geben können.
Das heißt: Jeder, der heute hier zur Bundeswehr geht, ist - vielleicht schon das
nächste mal - live dabei.
Das heißt: Wer hier seinen Kopf nicht zum Nachdenken gebraucht, den wird er -
vielleicht schon das nächste mal - kaputt geschossen.
Waffenschiebereien in die Türkei. Rüstungsexporte in alle Welt. Völkermord, Made in
Germoney.
Wer hier nicht protestiert, erfüllt seine Pflicht nicht.
Ja, ja. - Schuld? Sind immer die anderen. Wir haben davon nichts gewußt...
Nichts hören? Nichts sehen? Nichts sagen? - Nein!
Darum: Weg mit der Wehrpflicht. Weg mit den Zwangsdiensten. Weg mit dem Militärs und
der gesamten Kriegsmaschinerie.
Schluß mit dem Wahnsinn, dem wir geopfert werden und der sich stets aufs neue zu
wiederholen scheint.
Wehrt euch gegen diese Pflicht!
Denn Menschen kaputt machen, kann niemals eine Pflicht sein.
Die Demonstranten klatschen und jubeln, als ich fertig bin. Der Text ist politisch.
Aber irgendwie paßt er nicht zu mir.
Jäger und Gejagter
"Die Feldjäger sind im Personalbüro" sagt mein Kollege und sieht mich an.
Ich reagiere nicht. "Du, das ist kein Scherz!" Jetzt begreife ich. "Dann
mache ich jetzt Feierabend." Ich stehe auf und gehe über den Export in den Flur. Ich
sehe noch, wie ein Mann in die Import-Abteilung kommt und verschwinde über den Pförtner
am Seitenausgang.
Eine Straße weiter rufe ich nach zehn Minuten meinen Kollegen an. "Die stehen
noch vor der Türe." Er bringt mir mein Fahrrad. "Der Typ kam ins Büro und
fragte nur, wo du bist. Ich habe gesagt, daß du schon Feierabend hast und weil er nicht
gehen wollte, habe ich ihn rausgeschmissen. Sie wollten dann, daß der Pförtner dich in
der Halle ausruft, aber der hat sich geweigert." Ich lache. Ich habe echt tolle
Kollegen. "Die stehen jetzt noch vor dem Parkplatz."
Dieses Mal lassen sie mir keine Zeit. Am nächsten Morgen droht meine Haustüre unter
den Schlägen des harten Feldjägers zusammen zu brechen. Panik überkommt mich.
Verschlafen frage ich durch die Türe, wer da ist. "Ich befehle ihnen, sich
anzuziehen und in fünf Minuten heraus zu kommen." Ich sehe mein Gesicht im Spiegel.
Aber ich kenne mich nicht. Ich ziehe mich an und gehe zu meiner Wohnungstüre. Ich spreche
leise. "Rufen sie einen Krankenwagen." "Was soll das denn jetzt." Er
ist etwas irritiert. Und spricht jetzt in normaler Lautstärke. "Wenn sie mich hier
mit Gewalt herausholen, bringe ich mich um. "Machen sie keinen Unsinn und kommen sie
jetzt heraus. Er scheint nicht zu begreifen. Ich öffne die Türe einen Spalt. Die
Vorhängekette verhindert sein Eindringen. Sicher ist sicher. Er schaut durch den Spalt
und sieht in meiner Hand eine Rasierklinge. "Wenn sie sich das Leben nehmen wollen,
kommen sie natürlich erst einmal ins Krankenhaus, aber dann kommen sie in die
Psychiatrie."
Ich zittere und umklammere die Rasierklinge. Die Polizei ist inzwischen eingetroffen
und hat den harten Feldjäger mit in den Hinterhof genommen. Der andere Feldjäger
erzählt mir, daß er den Laden auch Scheiße findet. Aber in ein paar Monaten ist für
ihn Schluß. "Und bis dahin holst Du Leute wie mich von zu Hause ab, um sie im
Ernstfall in den Krieg zu schicken." Er schweigt betreten. "Aber sich umbringen
ist doch kein Ausweg." Das weiß ich.
Um 6.40 Uhr rufe ich in der Kaserne an. Mein Vorgesetzter ist noch nicht da. Ich solle
um sieben noch mal anrufen.
Der harte Feldjäger erklärt sich bereit, bis sieben Uhr zu warten. Ein freundlicher
Polizist will mit mir sprechen. Er verspricht mir, die Wohnung wieder, ohne etwas zu tun,
zu verlassen. Ich vertraue ihm. Trotzdem bleibe ich von ihm weit genug entfernt. Er
spricht mit mir. Versucht mir deutlich zu machen, daß ein Selbstmord keinen Sinn macht.
Er ist wirklich freundlich. Mein Vater fällt mir ein. Der Polizist ist bestimmt ein guter
Vater. Fast fange ich an zu weinen. Will mich nur noch auf den Boden fallen lassen und
weinen.
Um Punkt sieben rufe ich in der Kaserne an. Mein Vorgesetzter scheint auf meinen Anruf
gewartet zu haben. Ich schildere ihm die Situation und er möchte mit dem Polizisten
reden. Der Polizist bestätigt meine Schilderungen. "Er steht hier mit einer
Rasierklinge und Tabletten in der Hand und es sieht so aus, als ob er ernst machen
würde." Ich nehme die Worte des Polizisten nur verschleiert war. Ich bin ganz ruhig.
Mein Herz schlägt kaum noch.
Ich spreche noch mal mit meinem Vorgesetzten. Ich sage ihm, daß ich nachmittags in
die Kaserne komme, um meinen Entlassungsantrag zu unterschreiben. Und daß ich nur kommen,
wenn ich wieder aus der Kaserne heraus darf. Und daß ich eine Freundin mitbringe. Er
möchte mit dem Feldjäger sprechen. Der harte Feldjäger sagt nur ein paarmal laut ja
oder jawohl und legt dann auf. "Er erwartet sie dann heute nachmittag um 15 Uhr"
dreht sich um und verschwindet.
Mary. Ich rufe Mary an und sage ihr was passiert ist. "Natürlich komme ich
mit." Sie holt mich nachmittags bei Schenker ab und wir fahren gemeinsam zu der
Kaserne.
Mary und ich sitzen meinem Vorgesetztem gegenüber. Neben ihm sitzt ein älterer Mann
mit einer Kordel über der Brust. "Ich bin hier der Spieß." Das erklärt alles.
Wir unterhalten uns. Sie reden von meinem Entlassungsantrag. Und daß sie keine Unterlagen
von mir vorliegen haben. Sie drohen mit weiteren Feldjägereinsätzen. Sie drohen mit
Bundeswehrarrest. Mein Vorgesetzter will mich dem Truppenarzt vorführen. Aber der ist
nicht da.
"Es gibt da die Möglichkeit des Ausscheidens mittels Arzt." Der Spieß
schaut mich leicht nickend an. "Das muß aber innerhalb dieser vier Wände
bleiben." Mein Vorgesetzter starrt vor sich hin und schreckt dann hoch. "Ich
lasse sie jetzt gehen, ich könnte ihnen aber genau so gut den Befehl für Telefondienst
geben." Sein Gesicht verzieht keine Mine. Mary protestiert, er habe es schließlich
heute früh verbindlich zugesagt. Er nickt. Wir stehen auf und gehen.
Als wir das Kasernentor hinter uns gelassen haben, wache ich auf. Ich tanze vor Mary
auf dem Gehweg umher und umarme sie dann einfach.
"Während ihrem Urlaub waren die Feldjäger hier und sagten, daß ein Haftbefehl
gegen sie bestehen würde und daß sie sie das nächste Mal gleich einsperren werden und
dann für ein Jahr im Gefängnis sitzen." Ich lache und habe Mühe, sie vom Gegenteil
zu überzeugen. Dieser Lügner. Der Feldjäger kann es wohl nicht verkraften, daß ich ihn
nicht ernst nehme.
6. August, 20.45 Uhr. Es hämmert gegen die Türe. Ich entwickle langsam Routine und
öffne. "Ja bitte?" "Kommen sie sofort raus" brüllt er mich an.
"Das ist ja echt peinlich." Bärbel, meine Nachbarin von oben kommt herunter und
will in meine Wohnung. Der Feldjäger lächelt ihr zu und dachte wohl, sie meinte mein
Verhalten. "Sie sollten sich wirklich schämen, hier so herum zu brüllen." Sagt
es und kommt zu mir in die Wohnung. Sie gibt mir Zigaretten. Und umarmt mich. Ich gehe
nach draußen und wir warten vor dem Haus auf die Polizei.
Dieses Mal gibt es etwas Neues zum Kennenlernen. Feldjägerdepot Köpenick. Völlig
neu renoviert. Ich muß die Schnürsenkel aus den Schuhen ziehen und meine Taschen leeren.
Sie packen alles in einen Umschlag und kleben ihn zu. Ich darf über die Falz
unterschreiben. "Bei uns geht alles mit Ordnung zu." "Ja, ich weiß, und
zum Glück kann ich mich jetzt mit den Schnürsenkeln auch nicht mehr aufhängen"
grinse ich ihn an. Er murmelt unverständliche Worte und verschwindet hinter dem Tresen.
Kommt zurück und schiebt mich in die Arrestzelle. "Wenn sie eine rauchen wollen,
klopfen sie." Ich warte ein paar Minuten und klopfe. "Ich möchte bitte eine
rauchen" sage ich freundlich und er reicht mir meine Zigaretten und mein Feuerzeug.
Ich stehe vor dem Tresen und schaue den Feldjäger an. Heute hat er seine Uniform an. Mit
ihr sieht er noch schrecklicher aus. Er rennt hin und her und telefoniert. So stehe ich
eine gute Stunde einfach nur da und rauche. Irgendwann bleibt der harte Feldjäger stehen
und sieht mich an. "Was machen sie denn immer noch hier draußen?" "Ich
rauche" antworte ich nur und ziehe an meiner Zigarette. "Danach gehen sie wieder
in die Zelle." Ich nicke nur.
In meinen Socken habe ich eine Rasierklinge deponiert. Sie sticht in mein Bein. Aber
ich lasse sie da. Für alle Fälle.
Nachts um halb eins treffe ich in der Kaserne ein. Ich komme in einen grell
beleuchteten Raum. Ein Mann mittleren Alters kommt herein und alle Anwesenden zucken
zusammen und grüßen ihn typisch militärisch. Ich bleibe sitzen und er kommt auf mich
zu. Setzt sich neben mich. "Ich bin der Kasernen-Kommandant." Er schickt die
anderen hinaus, um mit mir alleine zu sprechen. Ich frage nach meinen Sachen und er
händigt mir den Umschlag aus.
Er sagt mir, daß er mich in den Arrest stecken wird, wenn ich nicht am Dienst
teilnehmen würde. Aber nicht hier in der Kaserne. Schließlich erinnere er sich an die
Demonstration vor ein paar Wochen. "Sie waren da ja auch dabei." "Ja."
"Sie wissen, daß sie das eigentlich nicht dürften." "Ja." Er sieht
mich fragend an. "Ich will zu einem Arzt." Seine Mine hellt sich auf. Er ruft
einen Uniformierten herein und spricht laut und offiziell. "Jäger Strauch zeigt
teilweise Einsicht. Er wird morgen um 9 Uhr dem Truppenarzt vorgestellt. Die Nacht
verbringt er in der Arrestzelle bei geöffneter Türe." Er dreht sich zu mir um, gibt
mir die Hand und verabschiedet sich.
Ich sitze auf einem bettähnlichen Gestell und rauche ein paar Zigaretten. Meine Augen
brennen. Ich starre an die Decke und denke an morgen.
Um 8 Uhr bringen mich zwei Wachsoldaten zu einem anderen Kompanie-Chef. Meine
Abteilung ist gerade auf Zeltlager. Wieder eine Niederschrift über die Vernehmung eines
Soldaten. "Ich lasse das dann nachher mit Schreibmaschine abtippen. Sie bekommen dann
einen Durchschlag." Sie lernen schnell.
Um Punkt neun stehe ich vor dem Truppenarzt. Er sieht mich kurz an und sieht dann
seine Akte durch. "Häufig waren sie aber noch nicht bei mir. Erzählen sie
mal." Ich erzähle ihm von meiner Heimzeit, meinem Umzug nach Berlin und den
Feldjägereinsätzen. Er nickt hin und wieder. Macht sich Notizen. "Ja, das kann ich
hier nicht entscheiden. Ich werde sie in das Bundeswehrkrankenhaus einweisen. Dort wird
dann über ihre Tauglichkeit entschieden." Ich nicke nur und gehe hinaus. Vor dem
Arztgebäude steht ein Bundeswehr-PKW mit offenen Türen. Auf der Fahrerseite steht ein
junger Soldat und lächelt freundlich. Ich werde nervös. So ein hübscher Kerl und bei
der Bundeswehr. Ich steige hinten ein und zwei Soldaten quetschen sich rechts und links
neben mich. Beim Fahren sehe ich das Gesicht des Fahrers von der Seite. Er ist schön.
Neurologie / Psychiatrie steht in schwarzen Buchstaben an der Milchglasscheibe. Wir
gehen hinein und der eine Uniformierte klopft an eine Türe. Er öffnet und sagt nur, daß
ich da bin. Eine Ärztin steht hinter ihrem Schreibtisch auf und kommt mir entgegen.
"Na, dann kommen sie mal herein" und zeigt auf einen Stuhl vor ihrem
Schreibtisch. "Danke, sie können dann gehen" sagt sie meinen Begleitern und
schließt die Türe hinter sich. "Vor mir werden sie ja wohl nicht davon laufen,
oder?" "Nein."
Ich erzähle ihr von meiner Kindheit. Dem Tod meiner Mutter. Das Heim. Die
abgebrochene Ausbildung. Der Umzug nach Berlin. Meine Selbstmordankündigung. Sie schreibt
viel mit. Fragt nach. Nickt mit dem Kopf. Schreibt weiter. Ich rede und rede.
"Dann ist mir das schon klar" sagt sie nach einer Pause. "Sie werden
hier zehn Tage bleiben müssen, wir werden weitere Gespräche führen und dann werden sie
wohl ausgemustert werden." Ich nicke und sage ihr, daß ich nichts bei mir hätte.
Sie schickt mich nach Hause und sagt mir auch, daß ich wieder kommen sollte. "Es ist
ihre letzte Chance, heil aus der Sache heraus zu kommen." "Ich weiß"
antworte ich und gehe an der Wache vorbei. In der U-Bahn hole ich die Rasierklinge aus
meiner Socke. Mein Bein ist rot verschmiert. Aber ich spüre nichts.
Es klopft an meine Türe. Ich schrecke zusammen. Nicht schon wieder. Ich öffne die
Türe und will schon den Feldjäger anschreien, als ich Helmut erkenne. Ach ja, ich hatte
völlig vergessen, daß er heute kommen wollte. Ich sage ihm, was passiert ist, daß er
bei mir übernachten kann und daß ich jeden Nachmittag aus dem Krankenhaus heraus gehen
könnte.
"Morgen und Sonntag kann ich sogar von neun bis 18 Uhr raus" sage ich zu
Helmut. "Dann können wir ja zum Baden gehen und in Ruhe reden." Ich ziehe die
Türe hinter mir zu und gebe Helmut meinen Schlüssel. Er begleitet mich noch ins
Krankenhaus und verschwindet dann.
Björn
Die geschlossenen Vorhänge lassen die Sommersonne nur spärlich ins Zimmer. Das
Fenster ist weit geöffnet und ein leichter Wind bewegt den Vorhang sanft hin und her. Ich
stelle meine Tasche auf das Bett und sehe einen Jungen auf einem Bett liegen. Er schläft.
Der sieht gar nicht wie ein Soldat aus. Er hat nur Boxershorts an. Ich betrachte seinen
Oberkörper, seine Beine. Er hat ein hübsches Gesicht. Ich versuche leise meine Sachen
auszupacken. Irgendwann ist er doch wach. Er steht leicht taumelnd auf und kommt auf mich
zu. "Hi, ich bin Björn. Kommst Du mit eine rauchen?" Ich gehe mit ihm und wir
unterhalten uns. Er erzählt von seiner Krankheit. Das heißt, er erzählt, daß die
Ärzte nicht wissen, was mit ihm los ist. Ich erzähle ihm von mir. "Die Ärztin ist
meine Tante, die ist völlig okay." Das Gefühl habe ich auch. "Deswegen bin ich
ja auch hier. Mit siebzehn ist man ja noch nicht bei der Bundeswehr." Wir gehen
hinunter in den Park und spazieren in der Abendsonne.
Am nächsten Tag hole ich Helmut bei mir zu Hause ab. Ich komme in meine Wohnung und
er ist da. Naja, jedenfalls schlafe ich jetzt nicht neben ihm. Wir gehen ins Poststadion
und legen uns in die pralle Sonne. Helmut hält es nicht lange aus und verzieht sich in
den Schatten. Ich lege mich auf den Bauch und fange an zu schreiben. Die Psychologin hatte
mir einen Fragebogen in die Hand gedrückt. Sie bräuchte ihn für die weiteren Gespräche
und würde ihn mir dann zurück geben. Ich vertraue ihr.
Fragebogen
1. Datum
09.08.1992
2. Name, Alter, Größe, Gewicht
Stefan Strauch, 23 Jahre, 172 cm, 67 kg
3. Familiensituation
Meine Familie war für mich bis zum 7. Lebensjahr meine Mutter und ein Bruder. Da
meine Mutter Frührentnerin war, lebten wir im unteren Mittelstand. Soweit ich mich
erinnere, waren wir drei die meiste Zeit allein.
Ab dem 7. Lebensjahr kam ich in ein von Klosterfrauen geführtes Kinderheim. dort
herrschte ein extrem gläubiger Erziehungsstil. Freunde habe ich so gut wie nie
mitgebracht, weil ich nicht wollte, daß jemand wußte, daß ich im Heim war.
4. Vater
Mein Vater war bei meiner Geburt 31 Jahre alt. Da mein Vater die Familie als ich 1 ½
oder 2 Jahre alt war verließ, bin ich ohne Vater aufgewachsen. Kennengelernt habe ich ihn
so mit 8, 9 Jahren, als er mal ins Heim wegen Erziehungsproblemen kam. Er hatte sich mit
der Schwester unterhalten und mir hinterher nur gesagt, daß ihm das alles ziemlich egal
sei. Dann fehlte wieder jahreweise jeder Kontakt. Mit 15 Jahren bin ich am 23.12. zu ihm
und habe ihm ein Geschenk gebracht. Habe dann noch bei ihm zu Abend gegessen und dachte
eigentlich, das wars. Als er jedoch am nächsten Morgen im Heim anrief, ich dürfte
über Weihnachten zu ihm, habe ich gehofft und mir gewünscht, wieder in eine Familie zu
kommen. Ich ging anfangs dann alle 14 Tage am Wochenende zu ihm, weil ich mich aber mit
seiner Frau nicht verstand, hatte ich dann keine Lust mehr hinzugehen. Ein Jahr später
verlief das Ganze noch mal fast genauso ab. 2 Jahre arbeiteten wir in der gleichen Firma,
man sah sich zwar, aber gesprochen wurde nicht viel. Seit Oktober 1988 fehlte dann wieder
jeder Kontakt. Seit 1990 schreiben wir uns gegenseitig im Jahr zwei Karten. Einmal
Geburtstag, Einmal Weihnachten. Im Juli 1992 habe ich ihn dann wieder gesehen. Uns
verbindet eigentlich nichts, wir kennen uns, weil wir verwandt sind.
5. Mutter
Meine Mama war bei meiner Geburt 36 Jahre alt. sie war gelernte Serviererin, arbeitete
aber meistens in Fabriken. Aus gesundheitlichen Gründen wurde meine Mutter zur
Frührentnerin und war deshalb den ganzen Tag für uns da. Sie gab mir in den sieben
Jahren eine Liebe, wie ich sie seit ihrem Tod im Januar 1977 nie mehr erfahren habe. Sie
nahm uns in die Arme, streichelte, küßte und tröstete uns. Sie hat alles für uns
getan, damit es uns gut geht. Sie war sehr gerecht und sagte immer: Beide oder Keiner. Sie
hat uns über alles in der Welt geliebt, hat für uns auf ihr eigenes Privatleben
verzichtet. Sie war schwer krank, was ich aber erst Jahre später erfahren habe. Sie hat
uns zu natürlichen, liebevollen und anständigen Jungen erzogen, wofür wir immer im Heim
als Paradebeispiel herhalten mußten. sie fehlt mir heute noch. Wenn ich an sie denke,
weine ich oft. Sie war der einzige Mensch, der mir diese vorbehaltlose Liebe,
Geborgenheit, in den Arm nehmen geben konnte.
6. weitere Bezugspersonen
Während der 10 Jahre im Heim hatten wir vier Gruppenschwestern und viele weltliche
Erzieherinnen. Keine von ihnen war für mich ein Ersatz für meine Mutter. Zu zwei
Fräuleins habe ich noch heute guten Kontakt auf Freundschaftsbasis. Ich habe aber keiner
von ihnen jemals etwas von mir erzählt, was mich bewegte, was ich fühlte. Ich habe immer
alles in mich hinein gefressen. Am ersten Abend im Heim wollte ich meinen Gutenachtkuß.
Aber dieser Kuß war ein Nichts, nur Leere. Bei der dritten Schwester (während meiner
Pubertät) habe ich einmal heulend im Wohnraum gesessen. Sie hat mich dann ist Bett
gebracht und auch ein bißchen getröstet. Am nächsten Tag bei einer Auseinandersetzung
hat sie mir dieses Verhalten vorgeworfen. Seitdem habe ich anderen Menschen nie mehr meine
Gefühle gesagt oder gezeigt.
7. Geschwister
Gefühlsmäßig habe ich eigentlich nur einen Bruder, mit dem ich bei meiner Mutter
zusammen war. Er ist vier Jahre älter und zu 50 % behindert. Ihm habe ich viel geholfen,
z. B. bei Hausaufgaben, als ich selbst noch nicht in der Schule war. Zu Hause verband uns
eine sehr vertraute und tiefe Beziehung. Wir haben uns zwar oft gestritten, aber das war
dann auch meist sehr schnell wieder vorbei. Im Heim wurde aus ihm für mich dann langsam
ein Heim-Freund, wie die anderen Kinder auch. Jedoch habe ich immer hinter ihm gestanden,
wenn er unfair behandelt wurde. Als er aus dem Heim raus kam, haben wir uns ab und zu
besucht, später waren wir auch mal zusammen in Urlaub. Als ich nach Berlin zog, ist auch
er von Kempten weggezogen und seitdem weiß ich nichts mehr von ihm. Insgesamt habe ich
sechs Halbgeschwister. Fünf Brüder, alle von der gleichen Mutter und eine Halbschwester
von meinem Vater. Persönlich kenne ich noch einen Bruder (sechs Jahre älter), habe aber
keinen Kontakt. Meine Halbschwester habe ich zweimal besucht und einmal geschrieben. Sie
ist Mitte dreißig und will von der ganzen Familie nichts wissen (wuchs bei Pflegeeltern
auf).
8. Schwangerschaft
Laut meinem Vater war ich ein Wunschkind. Bei meiner Mutter gab es da nie einen
Zweifel. Außer daß meine Mutter während der Schwangerschaft geraucht hat, weiß ich
nichts.
9. Geburt
Laut meiner Tante kam ich etwas zu früh auf die Welt. Und aus Sorge um mein Leben
wurde ich gleich am nächsten Tag getauft.
10. Säuglings- und Kleinkindalter
Ich bekam vom ersten Tag an nur die Flasche, gestillt wurde ich nie. Laufen konnte ich
mit 1 ½ Jahren, war aber wegen Beinschmerzen bis zum 5. Lebensjahr immer wieder beim
Arzt. Bis ich ins Heim kam, habe ich von Zeit zu Zeit ins Bett gemacht. Deswegen kam ich
im Sommer 1976 zu einer Erholungskur für Kinder. Danach war das dann vorbei. Probleme mit
dem Nägelkauen hatte ich bis zum 19. Lebensjahr. Das hat dann über Nacht aufgehört.
Aufgrund alter Fotos weiß ich, daß ich viel geweint habe.
11. Kindheit
Während mein Bruder in der Schule war, habe ich meistens alleine in meinem Zimmer
gespielt. Meine Mutter kam ab und zu vorbeischauen, ob ich überhaupt noch da bin, weil
ich so leise war. Beim Spazierengehen hielt ich immer die Hand meiner Mutter. Beim
Schlafengehen gab es immer einen Gutenachtkuß und Streicheleinheiten. Sie nahm mich sehr
oft in den Arm. Geschlagen wurden wir nie. an Bestrafungen kann ich mich nicht erinnern.
12. Kindergarten
Zum Kindergarten bin ich selten gegangen. Meine Mutter hatte mich auch nie gezwungen
hinzugehen. Irgendwann bin ich dann ganz zu Hause geblieben.
13. Grundschule
Durch einen Test kam ich ein Jahr früher in die Schule. Lesen und schreiben und
rechnen hatte ich schon zu Hause gelernt und konnte dadurch auch meinen Bruder, der auf
einer Sonderschule war, bei den Aufgaben helfen. In der Schule kam ich ganz gut mit, bis
ich ins Heim kam. Nach dem Tod meiner Mutter sackte ich total ab. Die zweite Klasse konnte
ich noch in meiner Schule machen, weil die aber vom Heim weiter weg war, kam ich zur 3.
Klasse in eine andere. Zu der Lehrerin in der 1. und 2. Klasse hatte ich ein sehr gutes
Verhältnis. Von ihr bekam ich beim Verlassen der Schule auch ein Buch geschenkt. Den
Lehrer in der 3. und 4. Klasse mochte ich auch ganz gerne und so gab es während der
Grundschule keine größeren Probleme.
In der Hauptschule (5. und 6. Klasse) kam ich mit den Lehrern nicht mehr klar. Ich
machte oft keine Hausaufgaben und hatte so ziemlich viel Streß. In der 7. Klasse
Hauptschule hatten wir eine tolle Lehrerin, bei der die Schule wieder Spaß machte. Danach
bin ich in die 7. Klasse der Realschule gewechselt, weil das Zeugnis gut war und die neue
Schwester mich dazu überredet hatte. In den vier Jahren bin ich eigentlich sehr gerne zur
Schule gegangen, vor allem, weil ich dann nicht im Heim war. Ich ging immer ohne
Frühstück (ich wollte mit der neuen Schwester nicht zusammen frühstücken) viel zu
früh hin, war nachmittags meistens in meinem Zimmer und hatte dadurch sehr viel Zeit und
vor allem Ruhe. Die letzten drei Jahre im Heim (1983-1986) kapselte ich mich total von der
Gruppe ab. Ich machte in meinem Zimmer die Aufgaben, hatte dann auch einen eigenen
Fernseher (um mich ruhig zu halten wurde er akzeptiert) und war dann die meiste Zeit für
mich alleine. Da ich mit der vierten Schwester vom ersten Tag an nur Probleme hatte,
wollte ich in eine anderes Heim wechseln. Da das Jugendamt dies nicht zuließ, durfte ich
dafür zum Ausbildungsbeginn eine eigene Wohnung haben.
16. Bundeswehr, Zivildienst, Arbeitsdienst
Seit 1.10.91 bin ich wohl lt. deutscher Gesetze Soldat. Da ich mich aber weigere etwas
zu tun, was andere mir aufzwingen, war ich bisher, feldjägerbedingt nur stundenweise in
der Kaserne.
17. Berufslaufbahn
Am 1.9.86 habe ich meine Ausbildung zum Speditionskaufmann in Kempten angefangen. Da
die Geschäftsleitung grundsätzlich Unstimmigkeiten meinem Vater und nicht mir mitteilte,
mir mein Vater aber nicht immer alles sagte und wenn doch, mit Bemerkungen, daß ihn das
eigentlich alles gar nicht interessiere, wuchsen die Differenzen und meine Unlust, bei
dieser Firma zu arbeiten. Ich meldete mich öfter telefonisch krank, ging nicht zur
Schule, zog trotzdem meine Streifenhose und Ohrringe an und bekam dadurch die fristlose
Kündigung zum 30.10.88. Danach war ich arbeitslos und da die Zukunftschancen in Kempten
sehr schlecht aussahen, bin ich im Mai 89 nach Berlin gezogen und konnte durch Glück und
Zufall meine abgebrochene Ausbildung zu Ende machen. Seit Bestehen der Abschlußprüfung
im Juli 90 bin ich als Importsachbearbeiter dort beschäftigt. Ich werde akzeptiert,
obwohl (oder vielleicht auch deswegen) ich auch heute noch Ohrringe, alte Turnschuhe und
bunte Klamotten anziehe. Momentan steht mein Job auf wackeligen Beinen, da zwei große
Speditionen zusammen gewürfelt wurden. Was letztendlich geplant wird von der
Konzernleitung weiß selbst der Betriebsrat noch nicht. Auch verliere ich meinen
Arbeitsplatz, wenn mein Jahresurlaub für Feldjägereinsätze nicht ausreicht. Ich bin mit
meiner Arbeit zufrieden, kann durch mein Gehalt alte Schulden langsam abzahlen und könnte
mir so langsam mein Leben aufbauen.
18. S**uelle Entwicklung
Mit meinem Bruder saß ich Mal nachts auf dem Tisch und wir haben gegenseitig unsere
P*****e in den Mund genommen. Ich war damals so fünf, sechs Jahre alt. Während der
Pubertät habe ich vor allem viel mit der Schwester gestritten.
Mit 12 hatte ich Kontakt zu einem ca. 16jährigen aus unserer Gruppe. Anfangs hatten
wir uns gegenseitig befriedigt, das war dann auch mein erster S***nerguß. Später haben
wir uns gegenseitig mit dem Mund befriedigt und dann habe ich ihn auch geb. Er wollte bei
mir auch, aber ich hatte zu starke Schmerzen und so ließ er es bleiben. Mir hat davor
geekelt, aber ich hatte auch den Drang, es mit ihm zu tun. Die Schwestern haben davon nie
etwas erfahren. Ein Mädchen in unserer Gruppe hat es irgendwie heraus bekommen, aber ich
habe nie etwas davon erzählt.
Ab 14 hatte ich dann eine Freundin, mit der ich ging. Das ging ein paar Wochen außer
Küßchen war auch nichts. Ich hatte auch kein Bedürfnis nach mehr.
Den ersten Geschlechtsverkehr hatte ich mit 19. Sie war auch 19. Wir kannten uns nur
sehr kurz, hatten darüber sehr wenig gesprochen und Befriedigung fand ich dabei auch
nicht. Die Beziehung dauerte etwa drei Monate, danach war ein halbes Jahr Pause, dann
wieder für ca. drei Monate.
Meine zweite Freundin hatte ich mit zwanzig. Die Freundschaft zerbrach, weil wir 700
km auseinander wohnten.
Mit 22 hatte ich dann noch mal eine Freundin, doch irgendwie hatte ich nie ein
Glücksgefühl dabei. Manchmal war ich sogar froh, wenn ich hinterher meine Ruhe hatte.
Diese Beziehungen dauerten alle nie länger als drei Monate. Seit Anfang 92 hatte ich
keine Freundin mehr.
Ich muß auch dazu sagen, daß ich mir meiner s**ueller Neigung nicht ganz im Klaren
bin. Während meines Heranwachsens hatte ich dann nochmals Kontakt zu einem gleichaltrigen
Jungen, später auch zu einem Vierzigjährigen.
Gerade in der letzten Zeit beschäftige ich mich sehr intensiv damit.
19. Partnerschaft, Ehe
20. Kinder
21. Umfeld
Die wichtigste Person in meinem Leben ist Mary. Mit ihr kann ich fast alles
besprechen, wir albern herum, wir lachen, wir diskutieren, wir nehmen uns in den Arm. Ich
kenne Mary schon seit ca. vier Jahren, die feste Beziehung ist aber erst seit ca. 1,5
Jahren. Sie hat auch alles für mich erledigt, wenn ich von Feldjägern abgeholt wurde,
ging mit in die Kaserne um mich zu unterstützen. Bei ihr konnte ich übernachten, wenn
ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Wir unternehmen viel zusammen, gehen abends
auf Tour, ins Kino, Spazieren. Und doch hat jeder sein eigenes Leben, das der andere
respektiert.
Edith ist die zweite wichtige Person. Mit ihr konnte ich ebenfalls fast alles
besprechen, sie hat mich immer wieder aufgebaut, sie sah in mich hinein, wußte, was ich
fühlte, sagt zwar immer knallhart ihre Meinung, jedoch weiß ich dann immer was Sache
ist. Seit 2 Monaten ist sie nun in Belfast und ich hoffe, daß sie es schafft.
22. Krankheiten und Krankenhausaufenthalte
Mit 8, 9 Jahren Augenoperation wegen eines kleinen Seefehlers für ca. 2 Wochen.
23. Symptome
Seit Jahren Einschlafschwierigkeiten. Wache nachts ab und zu auf, wenn ich
erschreckendes geträumt habe. Mich ergreift von Zeit zu Zeit eine Panik, dann muß alles
auf einmal und stressig schnell gehen (z. B. Wohnung sauber machen), dann wieder Phasen
des völligen Gleichgültigkeitsgefühls.
24. Suicidalität
Das erste Mal habe ich an Selbstmord gedacht, als sich ein Nachbarsjunge von zwei
Mädchen, die auch in dem Heim waren, das Leben genommen hat. Mit 12, 13 Jahren konnte ich
das alles nicht fassen, war einfach nur traurig und habe lange daran gedacht.
Mit 16 Jahren erlebte ich, wie sich eine Erzieherin das Leben nehmen wollte. Sie
lächelte immer, war auch sehr ruhig und es hat sehr lange gedauert, bis sie darüber
hinweg war.
Das letzte Mal, beim Feldjägereinsatz im Juli habe ich gedroht, mir das Leben zu
nehmen. Es war 6.15 h am Morgen. Vor allem war ich damals echt stinksauer. Ob ich es
wirklich getan hätte, ich weiß es nicht.
25. Jetzige Situation
Ich bin nicht zur Bundeswehr hingegangen, weil ich mich von keinem Menschen mehr
jemals zu irgend etwas zwingen lassen werde. Wenn jetzt dann mein Jahresurlaub abgelaufen
ist, verliere ich meinen Arbeitsplatz. Manchmal denke ich pausenlos sämtliche
Möglichkeiten durch. Manchmal weigere ich mich überhaupt daran zu denken.
Am meisten Angst habe ich momentan davor, daß mein Leben total zerstört wird. Keine
Arbeit, keine Wohnung und noch mal von vorne anfangen, ich weiß nicht.
Angst habe ich auch davor, daß plötzlich alles aus mir herauskommt, was sich all die
Jahre angesammelt hat.
26. Selbstbeschreibung
Ich bin ein launischer Mensch, der seine Gefühle sehr gut verbergen kann. Ich bin
ziemlich ruhig, ziemlich verschlossen, verträumt, verspielt, lebe manchmal in einer
Phantasiewelt, sehe alles nicht mehr so eng wie früher, möchte viel allein sein, Ruhe
haben.
Habe manchmal das Gefühl, ich kann nicht lieben. Fühle mich von Zeit zu Zeit
lustlos, überflüssig, leer, einsam.
27. Freizeitgestaltung
Den größten Teil meiner Freizeit brauche ich für mich selbst. Zum Nachdenken,
träumen. Höre gerne Klassik zum Entspannen. Mag aber auch den härtesten Hardcore zum
Ausflippen, tanzen, Kneipentour, Kino, lesen. Ich fahre gerne Rad, allein in verlassenen
Gegenden, lege mich gerne mitten in eine Wiese und lausche der Natur. Meine Urlaube
verbringe ich ohne jede Planung. Verreise immer von heute auf morgen, egal wohin. Lese
viel und beobachte gerne fremde Menschen.
28. Körper
Zu dick, zu breit, zu behaart. Ich wünsche mir oft, in einem anderen Körper zu
stecken.
29. Krisenverhalten
Möglichst nichts anmerken lassen, absolute Informationssperre nach draußen. Schiebe
die Probleme vor mir her, statt Lösungen zu suchen; Abwarten und Teetrinken. Vergrabe
mich in mir selbst, komme aus dem Grübeln nicht mehr heraus, unterdrücke jeden Schmerz.
30. Kontakte
Wenn ich Menschen sehr gut kenne, ihm absolut vertraue, dann hat er unter Umständen
die Chance, an mich heran zu kommen.
Bei Fremden ist die Türe zu, versuche ihn abzuwimmeln, stimme allem zu, bis er die
Lust verliert und es ihm zu langweilig wird. Plappere dummes Zeug.
31. An was hindert Sie ihr Symptom in Ihrem Leben, wozu brauchen sie Ihr Symptom?
32. Verhalten
Ich komme mir fremd vor, kann sie nicht richtig einschätzen. Liebe zu schenken ist
für mich fremd, traue ich mich nicht, Angst vor zu enger Vertrautheit.
Zorn und Wut kann ich nicht nachvollziehen. Eher Ohnmacht oder Gereiztheit. Äußerung
mit einem beleidigt klingenden Danke.
Wenn mir jemand unfair kommt, ist das Gespräch auch schon beendet.
Meistens fühle ich den Schmerz anderer mit, stehe leer da und fühle mich hilflos.
Meinen Schmerz teile ich niemanden mit, wenn ich weine, dann alleine daheim.
Wenn ich Angst habe, werde ich ruhig (leise) und bekomme Herzrasen und
Schweißausbrüche.
Ausdruck wohl über mein zielloses Umherirren.
33. Einstellungen
Ich stimme nicht für mich. Im Zweifel stimme ich für niemanden.
Ich lebe absolut selbständig und unabhängig als Individuum.
Ich brauche Ruhe, Zeit.
Ich mag keine Massenveranstaltungen, kann nicht mit anderen eng zusammen sein.
Ich verschließe mich der Gesellschaft, weil ich kein Teil von ihr sein möchte, weil
sie mir Angst macht und droht.
Schwules Blut
Ich schaue hoch und sehe Helmut im Schatten sitzen und eine Zigarette rauchen. Ich
weiß nicht, was ich denken soll. Irgendwie mag ich ihn ja, wenn er nur nicht immer damit
anfangen würde. Tun was nochn bißchen? Ich höre es ihn sagen. Immer wieder.
Warum schaue ich Jungen nach und finde den S** mit ihm trotzdem eklig.
Ein braungebrannter Jugendlicher geht an mir vorüber und ich verrenke meinen Hals, um
ihm nach zu sehen. Er hat einen schönen Körper. Er setzt sich zu einer Jungengruppe und
albert dort mit ihnen herum. Ich werde neidisch und schaue in den Himmel. Ich rauche eine
Zigarette und fühle mich leer.
Björn sitzt mir gegenüber und erzählt mir von seiner Vergangenheit. Von der DDR.
Heute vor 31 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Ich höre ihm zu. Ich beobachte seine
Gesichtszüge. Seine Hände. Seine Beine. Wenn er kurz aufsteht, um sich anders
hinzusetzen, sehe ich auf die Beule in seiner Schlafanzughose.
"... das ist mein Freund, wir sind schon ziemlich lange zusammen." Ich
schaue Björn fragend an. "Du hast doch bestimmt schon bemerkt, daß in meinen Adern
schwules Blut fließt." Mein Puls wird schneller und mein Hals schnürt sich zu.
"Wer nicht" krächze ich. Etwas dümmeres konnte ich nicht sagen.
"Was?" "Nun, ich..." was soll ich denn jetzt sagen, oh Gott,
"...ja, ich glaube..." Mir wird heiß. Mein Kopf scheint zu platzen.
"...ich bin auch schwul..."
"Na da ist aber gerade ein Gebirge zusammengefallen." Björn lächelt mich
liebevoll an. "He, alles okay bei dir?" "Ja." Ich zittere. In meinen
Schläfen pulsiert kochendes Blut. "Du bist der erste, dem ich das gesagt habe"
sage ich leise. Björn nickt. "Jetzt werde ich erst einmal einen Kaffee kochen"
sagt Björn und verschwindet mit der Glaskanne aus dem Zimmer.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Zünde mir eine Zigarette an und ziehe daran und
blase den Rauch in die dunkle Nacht.
Ein sanfter Windhauch nimmt den Rauch mit auf seine Reise.
Ich habe es gesagt. Ich habe es tatsächlich gesagt. Ich. Bin. Schwul. Ein kalter
Schauer läuft über meinen Rücken. Ich bin schwul. Hm.
Björn kommt mit dem Wasser zurück uns stellt die Kaffeemaschine an. Wir setzen uns
und ich höre dem Gluckern zu. Ich erzähle aus meinem Leben. Von meiner Mutter. Vom Heim.
Von meinen s**uellen Erlebnissen. "Magst Du ihn?" "Er ist ganz nett."
"Ganz nett." "Willst du den S** mit ihm?" "Nein." "Dann
lasse ihn nicht mehr in deine Wohnung! Wenn er das nächste mal anruft, sage ihm, du
willst nicht, daß er bei dir übernachtet." Ich nicke nur.
Um halb fünf gehen wir in unser Zimmer. Björn schläft schnell ein. Ich liege auf
meinem Bett und schaue ihn an. Er sieht so liebevoll aus.
Das Bild verschwimmt langsam. Tränen. Ich weine einfach los. Tränen. Tränen ohne
Ende. Meine Körper schüttelt sich. Ich sacke in mir zusammen. Es schmerzt. In mir drin.
Gewaltig.
Es wird dunkel um mich herum. Ich öffne meine Augen und die Morgensonne blendet mich.
Alles ist verschwommen. Und immer noch laufen Tränen über mein Gesicht. Tropfen auf
meine Kleidung. Versickern.
Langsam werde ich ruhiger. Mein Körper vibriert nur noch leicht. Ich spüre nichts.
So muß sterben sein. Nichts spüren. Nichts fühlen.
Mein Kopf ist leer. So, als ob sich nie ein Gedanke darin aufgehalten hätte.
Diagnose-Nr. 300 - Fehler-Ziffer VI/13 (6)
Während des stat. Aufenthaltes war der Pat. bezüglich seines psychischen Befindens
und seines Verhaltens völlig unauffällig. Mit dem Pat. wurden mehrere Gespräche
geführt, der psychische Befund war unverändert.
Der Pat. war sich wohl als er unerlaubt der Truppe fernblieb, letztendlich den
massiven Konsequenzen, die ihn hier erwarten, nicht bewußt. Der Pat. hat seit der
Entlassung aus dem Heim eine relativ eigenständige Entwicklung genommen, sich aber doch
auch weiterhin von seiner Umwelt abgekapselt und sein Leben bislang allein gelebt. Das
unerlaubte Fernbleiben von der Truppe zeigt doch eine gewisse soziale Unreife, die der
Pat. hat und eine mangelnde Anpassungsfähigkeit. Diagnostisch handelt es sich bei dem
Pat. um eine primäre psychische Fehlentwicklung einer sozial unreifen depressiven
Primärpersönlichkeit mit mangelnder Anpassungsfähigkeit. Entsprechend dieser Diagnose
würden wir empfehlen, die Fehler-Ziffer VI/13 (6) zu vergeben. Der Pat. wäre damit
verwendungsunfähig. Wir würden empfehlen, den Pat. bis zum Ende seines
Dienstverhältnisses KZH zu führen. Eine WdB ist nicht wahrscheinlich.
Am 30. September 1992 hole ich meine Entlassungspapiere. Die Kaserne ist leer. Nur
wenige Uniformierte sind hier. Sie sehen mich und gehen stumm an mir vorüber. Mein
Vorgesetzter ist auch da. "Sie warten gefälligst draußen" herrscht er mich an,
als ich sein Büro betrete. Er schaut mich mit versteinerter Mine an. Ich bleibe vor der
Türe stehen und warte. "Hier sind ihre Unterlagen." Er schließt die Türe. Ich
drehe mich um und gehe. Über den Kasernenhof. Vorbei an den Wachsoldaten. Durch das
große Eisentor. Hinaus. In mein Leben.
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