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Erzeuger

 

 

Es war über zwei Jahre her, als ich angefangen hatte, meine Geschichte aufzuschreiben. Teilweise kam es mir vor, als lese ich die Geschichte eines anderen Menschen. Ich konnte es nicht glauben, daß ich es geschafft hatte. Daß ich meine Vergangenheit angenommen habe. Daß sie ein Teil von mir wurde. Sie macht mir keine große Angst mehr. Ich kann zurück denken, ohne daß sie mir allzu sehr weh tut. Meine Vergangenheit ist nicht schlecht. Das, was der Hausmeister daraus machte, war schlecht. Abgrundtief schlecht.

Ich habe gelernt, mir nur noch gut zu tun. Versuche, mich selbst nicht mehr zu verletzen. Möchte nur noch mit Menschen zusammen sein, die mich lieben. Akzeptieren. Wie ich bin. Ohne wenn und aber. Ich habe gelernt, meine Träume zu behalten. Sie kann mir niemand nehmen. Sie haben mir immer geholfen zu überleben.

Aber ich habe auch gelernt, mich von den Träumen zu lösen, die nicht eintreten können. Ich habe immer von einer Familie geträumt. Von einem Vater. Ich wollte wieder Eltern haben.

Zu lange habe ich dem Traum hinterher gehangen, mein Vater würde mich wirklich lieben. Dachte, er könne es mir nur nicht richtig zeigen. Alles nur Utopie. Als ich das begriffen habe, war ich sehr ernüchtert. Ein Traum war geplatzt. Ein Traum, der mich über Jahre über Wasser hielt. Und ihn sollte ich einfach so aufgeben? Ich habe es getan:

 

Berlin, 14.1.95

Hallo!

»Im Großen und Ganzen geht es dir, scheint mir, ja ganz gut ...« Das ist deine zusammenfassende Antwort auf meinen letzten vierseitigen Brief, in dem ich die persönlichsten und intimsten Gefühle und Empfindungen mitgeteilt habe. Ich fand das sehr schade. Ich hatte gehofft, erwartet?, daß du darauf eingehst, dich mitteilst, Stellung beziehst, dich mit mir freust, oder eben nicht, wie mir scheint. Keine Frage, wie sieht er aus, was macht er, wie stellt ihr euch die Zukunft vor, gemeinsam, und so weiter. Keine Reaktion auf mein Hinterfragen und Nachfragen in der Vergangenheit, nichts. Wäre Linus weiblich, wäre wahrscheinlich gleich die Frage nach dem Hochzeitstermin gekommen. Aber so läßt man das Thema lieber beiseite, nur nichts nach außen tragen, wäre ja auch peinlich... Letztens habe ich mich gefragt, ob beim Sterben meiner Mutter jemand bei ihr war. Ich war jedenfalls nicht da, mich hat man ferngehalten, "deine Mutter sieht so schlecht aus und du sollst sie doch in schöner Erinnerung behalten", mir hat es am Abend eine Nonne kommentarlos mitgeteilt, niemand hat mich in den Arm genommen, ich war allein, 10 Jahre lang, eingesperrt in einem Kinderheim, das keines war. Eine Aufbewahrungsstelle für nicht gewollte Kinder...

Ich suche nicht nach "Schuldigen", die ich anklagen kann, ich suche nach Antworten zum Verstehen und Begreifen, nach Möglichkeiten des Weiterlebens in einem anderen Verständnis. Ich habe das Gefühl, daß du erst seit meinem Wegzug von Kempten einigermaßen mit mir umgehen kannst, weil du jetzt nicht mehr befürchten mußt, vielleicht doch noch für mich sorgen zu müssen, aus den Augen aus den Sinn... genügend Weite bedeutet keine Gefahr...

Das Foto, das ich beilege, zeigt mich und den Menschen, der mir mehr bedeutet, als die meisten anderen, die ich überhaupt kenne. Vermutlich wird dieses Bild in einer sehr weit hinten liegenden Ecke einer Schublade verschwinden, wenn nicht gleich ganz. Wäre es ein "normales" Foto, bekäme es sicherlich einen schönen Platz im Wohnzimmerschrank, dann dürfte es ja auch jeder sehen...

Steven

 

Kempten, 5.2.95

Hallo Stefan!

Habe deinen Brief erhalten und war sehr enttäuscht über deine Vorwürfe und Anschuldigungen. Ich weiß nicht ganz, was das auf einmal alles soll. Ich war der Meinung, man sollte im Leben vorwärts schauen und nicht dem nach trauern, was schon so lange zurück liegt. Da habe ich mich aber sehr geirrt und das finde ich schade, daß jetzt alles wieder von vorne angehen soll. Du meinst, du hast es so, so schlecht gehabt, du warst eingesperrt, man meint fast, du warst im Gefängnis, aber du übertreibst mal wieder maßlos. Du meinst, mir geht es so gut, aber du hast keine Ahnung und wenn man nichts weiß, soll man sich ein bißchen zurück halten. Ja, Stefan, du hast mit deinem letzten Brief wieder viel kaputt gemacht, was man mühselig aufgebaut hat. Denk‘ einmal an deinen Bruder Armin, dann ist dein Los ein großes Stück kleiner gewesen. Ich habe deinen Brief und das Bild jemand von deiner Verwandtschaft gezeigt und man war nicht gerade erfreut, überhaupt zu dem Bild, es ist provozierend, mehr nicht. Solltest du dich dennoch mit mir aussprechen wollen, ich bin dabei. Weiterhin alles Gute.

Dein Vater

 

Berlin, 19.2.95

Hallo.

Das ist nun der 3. Versuch, einen Brief an dich zu schreiben; und ich denke, ich werde mich darauf beschränken, dir mitzuteilen, daß, solange du mich nicht vorbehaltlos und ohne jegliche Kompromisse akzeptieren kannst, ich keinen Kontakt zu dir haben will. Daß die Bilder, und damit mein Verhalten, also ICH, provozierend sind, kann ich tagtäglich in Berlin von irgendwelchen primitiven und dummen Menschen hören. Diese Diskriminierung muß ich mir nicht antun, auch von dir nicht! Ich habe zwischenzeitlich sehr hohe Ansprüche, was "Beziehungen" angeht und du wirst dich ganz gewaltig ändern und dazu lernen müssen, wenn du jemals wieder etwas mit mir zu tun haben möchtest. Ich denke, daß dir das egal sein wird, wie bisher eben auch. Ich kann damit leben, ich brauche dich nicht (mehr). Früher, ja früher hätte ich dich, nein, nicht dich! einen Vater!! gebraucht. Aber ich habe es alleine geschafft. Du hast meine Mutter sitzen lassen, du hast dich einen Dreck um deinen Sohn geschert. Zu so einem Menschen brauche ich keine Beziehung! Wache endlich auf und lebe!

Steven

 

Mein Erzeuger hat nicht begriffen. Er weiß bis heute nicht, was ich erlebt habe. Im Heim. Danach. Heute. Und so soll es auch bleiben. Er weiß seit meinem letzten Umzug noch nicht einmal mehr, wo ich wohne.

Meine Cousine hat mich einmal gefragt, warum ich es ihm nicht sage, damit er wenigstens wüßte, was er mir antat, bzw. was er unterlassen hatte. Aber er würde dann nur aus falschem Mitleid kommen. Er hat so schon alles falsch gemacht, was er falsch machen konnte. Er ist eine Bankrott-Erklärung an die Menschlichkeit.

 

Nachtrag:

Im Februar 2000 habe ich "Zu Hause ist wo anders" ausgedruckt und ihm zugesandt. Er hat darauf reagiert wie immer. Gar nicht.

 


 

Antrag auf Änderung des Vornamens vom 22. November 2001

Begründung zu meinem Antrag auf Streichung meines 2. Vornamens "Horst"


Der Name "Horst" ist der Vorname meines Erzeugers. Diesen Namen möchte ich streichen lassen, da ich meinen Erzeuger niemals in einer Vaterrolle erlebt habe. Wir hatten in den wenigen Kontakten niemals über persönliche Dinge gesprochen, es gab nie ein Gefühl von Geborgenheit oder Nähe. Mein Erzeuger ist für mich ein fremder Mensch.

Es stellt für mich eine große seelische und psychische Belastung dar, über meinen 2. Vornamen immer wieder an meinen Erzeuger erinnert zu werden.

Ich habe mich in den letzten Jahren sehr intensiv mit meiner Vergangenheit beschäftigt, insbesondere die Zeit, in der ich in einem Kinderheim für 10 Jahre untergebracht war. In dieser Zeit wurde ich über Jahre körperlich und seelisch mißhandelt und sexuell mißbraucht. Diese Aufarbeitung hat mich sehr viel Zeit und Kraft gekostet. Sie hat mir auch gezeigt, wer in meinem Leben einen Platz hat und wer nicht.

Mein Erzeuger war niemals in meinem Leben tatsächlich als Vater präsent, obwohl ich mehrmals vergeblich versuchte, Kontakt herzustellen. Seit Februar 1995 besteht nun kein Kontakt mehr und seit dem geht es mir auch zunehmend besser.

Daß ich als 2. Vornamen den Vornamen meines Erzeugers tragen muß, bedeutete für mich in den letzten Jahren immer wieder das Hochkommen von negativen Erinnerungen, verbunden mit dennoch immer noch zu dem damaligen Zeitpunkt vorhandenen Hoffnungen auf eine Familie.

Inzwischen habe ich gelernt, daß ich keinen Vater habe. In diesem Loslösungsprozeß ist es für mich sehr wichtig, daß ich mich auch "sachlich" von ihm trenne. Wann immer ich den Namen Horst höre oder lese (und dies ist in meinen aktuellen Unterlagen ja nun noch der Fall) bekomme ich ein bedrückendes Gefühl und neige in depressives Verhalten abzufallen.

Wenn ich an den Namen Strauch denke, dann habe ich hierzu die Erinnerung an meine Mutter, die ja den selben Namen trug. Daß mein Erzeuger den gleichen Namen trägt ist dabei für mich nicht von Bedeutung. Die guten Gefühle, das Gefühl des Zusammenhalts mit meiner Mutter ist für mich sehr bedeutend und wichtig. Eine Abgabe des Namens Strauch käme für mich einer Loslösung von meiner Mutter gleich, das möchte ich nicht.


Die Begründung im einzelnen:

Die Ehe meiner Eltern wurde mit Urteil vom 22. Juli 1971 des Landgerichts Kempten (Allgäu) aus Verschulden meines Erzeugers geschieden.

Hauptgründe der Scheidung waren, daß sich mein Erzeuger weder um meine Mutter, noch um meinen Halbbruder, noch um mich wirklich kümmerte. Aus dem Urteil ist ersichtlich, daß er zu dem damaligen Zeitpunkt Alkoholiker war und selbst nicht davor zurück schreckte, in das Schlafzimmer der ehelichen Wohnung seine erste Frau mitzunehmen.

Das Sorgerecht wurde mit Beschluß vom Amtsgericht Kempten vom 27.11.1971 meiner Mutter zugesprochen.

Nachdem mein Erzeuger die Familie verlassen hatte weiß ich aus Fotoalben, die meine Mutter regelmäßig fortführte, daß sich mein Erzeuger nur zu den "hohen Feiertagen" wie Weihnachten und Geburtstag für wenige Stunden blicken lies. An diese Zeit (Geburt bis Sommer 1976) kann ich mich nicht erinnern.

Meine Mutter kam im Sommer 1976 wegen einem Magenkrebsleiden ins Krankenhaus. Deshalb kam mein Halbbruder und ich in das Kinderheim "Gerhardinger Haus" in Kempten (Allgäu). Meine Mutter ist am 3. Januar 1977 gestorben.

Die Einweisung in dieses Kinderheim habe ich als sehr traumatisch erlebt, da ich niemanden hatte, der mir die Situation erklärte, der mich in den Arm genommen hätte, der einfach da gewesen wäre. Ich war zu diesem Zeitpunkt 7 Jahre alt und wurde in der Folge dieser Zeit sehr introvertiert und verschlossen. Mein Halbbruder war zu diesem Zeitpunkt 11 Jahre alt und natürlich nur im Rahmen seiner Möglichkeiten in der Lage, Hilfe und Unterstützung zu bieten.

Aufgrund des Todes meiner Mutter wurde vom Jugendamt Kempten Amtsvormundschaft über mich am 04.01.1977 beantragt beim Vormundschaftsgericht Kempten. In diesem Schreiben steht, daß mein Erzeuger erwogen hatte, mich zur Adoption frei zu geben.

Die Übernahme der Vormundschaft durch das Jugendamt hat mein Erzeuger noch am selben Tag ohne weiteres akzeptiert.

Mit Beschluß vom 12. Januar 1977 wurde das Jugendamt Kempten zum Vormund über mich bestimmt.

Das erste mal tatsächlich wahrgenommen in meinem Leben habe ich meinen Erzeuger Weihnachten 1978. Und das erste Treffen dauerte ca. 1 Minute. Meine Großmutter ging am 24.12. mit mir zu ihm, klingelte und nachdem seine (neue) Frau die Türe öffnete, verschwand sie kommentarlos und holte ihren Mann. Der stand dann wenige Augenblicke später in der Türe und meinte, daß unser Besuch "ungelegen" käme, da sie selbst gerade Besuch hätten. Meine Großmutter sagte darauf nur, daß es eine Schande wäre, wenn er nicht einmal an Weihnachten Zeit für seinen Sohn hätte, drehte sich um und zog mich hinter sich her. Ich war so aufgelöst, daß ich stundenlang weinte.

Im Oktober 1978 hat mein Erzeuger auf Drängen meiner Großmutter, das Sorgerecht für mich beantragt, weil meine Großmutter wollte, daß ich bei ihr wohne. In diesem Antrag wußte er noch nicht einmal (mehr) mein richtiges Geburtsdatum.

Das Jugendamt hatte mit Schreiben vom 22.12.1978 dazu Stellung bezogen und hielt die Amtsvormundschaft weiter für angebracht. Das Jugendamt Kempten bezog sich dabei auch auf den Abschiedsbrief meiner Mutter, in dem sie deutlich sagt, daß sie nicht möchte, daß ich zu meinem Vater gegeben werden soll (Kenntnis von dem Abschiedsbrief meiner Mutter habe ich erst durch Akteneinsichten 1995/1996 erhalten). Nach Vorsprechen meines Erzeugers am 18.01.1979 beim Amtsgericht Kempten zog dieser seinen Antrag zurück.

Die kommenden Jahre lebte ich ohne jeden Kontakt zu meinem Erzeuger zusammen mit meinem Halbbruder im Kinderheim. Zu Weihnachten gab es regelmäßig das Versprechen, daß er mit mir zu Skifahren gehen würde. Ich hatte auch tatsächlich neue Skier von ihm zu Weihnachten bekommen. Da war ich vielleicht 9 oder 10 Jahre alt. Wir sind aber nie Skifahren gewesen.

Zu Weihnachten 1983 hatte ich dann das erste mal versucht, Kontakt zu meinem Erzeuger aufzunehmen. Ich brachte ihm am 23.12.1983 ein Geschenk, daß ich in der Schule im Werkunterricht gebastelt hatte. Bei dem ersten Treffen war mir sehr unwohl und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, daß es in der Wohnung menschlich kalt war. Aber damals war das nur ein unbeschreibliches Gefühl.

Am folgenden Tag kam die Gruppenschwester auf mich zu und meinte, ich könnte über Weihnachten bei meinem Erzeuger sein. Ich freute mich darauf, weil plötzlich Hoffnungen hochkamen, endlich wieder eine Familie zu haben, und wenn schon keine Mutter... dann doch zumindest einen Vater...

Am 24.12.1983 saßen wir wortlos im Wohnzimmer und aus lauter Verlegenheit gab mir die Frau meines Erzeugers eine Zeitschrift "Wochenend" in die Hand mit dem Satz, daß ich dafür ja schon alt genug wäre.

Die kommende Zeit ging ich dann 14-tägig zu meinem Erzeuger und seiner Frau bis dieser Kontakt nach ein paar Monaten wieder abbrach. Was mir heute dazu noch einfällt war, daß ich immer beim Gehen das nächste Treffen vereinbaren mußte, ich also nie spontan vorbei kommen durfte oder sollte.

Komisch fand ich auch immer, daß wir uns nie in den Arm genommen haben. Das hatte ich mir immer gewünscht, aber er hat das nie gemacht. Abends vor dem zu Bett gehen gaben wir uns die Hand...

Ein Jahr später hatte ich erneut versucht, Kontakt aufzunehmen, dieses mal zu seinem Geburtstag. Ich ging danach dann mehr oder weniger regelmäßig alle 14 Tage hin. Mit der Zeit war der Grund des Besuchens mehr der Punkt, daß es immer noch besser war, als im Heim zu verbleiben.

Mit ca. 16 Jahren schlief das ganze mehr oder weniger ein und ich war nur noch sporadisch bei meinem Erzeuger und seiner Frau. Während dieser Zeit war ich meist alleine im Kinderheim, da mein älterer Halbbruder längst ausgezogen war und eine eigene Wohnung hatte. Der Kontakt zu meinem Halbbruder wurde auch zunehmend schlechter, bis er ganz abbrach.

Nach dem erfolgreichen Realschulabschluß begann ich eine Ausbildung zum Speditionskaufmann in der gleichen Firma, in der auch mein Erzeuger arbeitete. Die Ausbildungsstelle hatte ich mir selbst gesucht und erst als meine Unterlagen beim Chef vorlagen hatte mein Erzeuger überhaupt davon erfahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer noch die Hoffnung, daß wir mal ein normales "Vater-Sohn-Verhältnis" bekommen würden.

Nach dem 2. Ausbildungsjahr wurde ich fristlos entlassen, weil ich keine Lust mehr hatte in dem Unternehmen zu arbeiten. Alle "Fehlvorkommnisse" meinerseits wurden immer nur meinem Erzeuger mitgeteilt und nicht mir, mein Erzeuger hatte mir aber nie die Informationen weiter gegeben, so daß ich nie wußte, woran ich war.

Von November 1988 bis Anfang Mai 1989 war ich arbeitslos und hatte keinen Kontakt mehr zu meinem Erzeuger. Am 11. Mai 1989 bin ich nach Berlin gezogen, um einfach weg zu sein. Ich habe die Stadt, die Menschen, die Verwandten, meinen Erzeuger einfach nicht mehr ertragen. Grund für Berlin war zum einen, daß ich hier jemanden kannte, und zum anderen, daß es damals in Berlin noch keine Wehrpflicht gab.

Irgendwann im Jahre 1990 oder 1991 habe ich meinem Erzeuger dann eine Karte von Berlin mit meiner Adresse geschickt und von da an hatten wir einen "Kartenaustausch" von 2x jährlich (Geburtstag und Weihnachten). Wir hatten nie telefoniert oder uns persönlich getroffen. Für eine Fahrt ins Allgäu hatte ich kein Geld und auf die Idee, mal nach Berlin zu kommen, ist mein Erzeuger nie gekommen.

Im Oktober 1991 wurde ich zur Bundeswehr einberufen, bin jedoch nicht angetreten und verschwand erst einmal nach USA. Dort habe ich angefangen, mich mit meinem Leben und mit meiner Vergangenheit auseinander zu setzen. Dort habe ich Dinge aus meinem Leben erfahren, die ich lange verdrängt und vergessen hatte. Meine "Fahnenflucht" konnte natürlich nicht gut gehen und letztendlich landete ich im August 1992 im Bundeswehrkrankenhaus Berlin Mitte zur Überprüfung meines Tauglichkeitsgrades.

In diesem Krankenhaus sollte ich einen Lebenslauf schreiben und war dadurch wieder gezwungen, mich mit meiner Vergangenheit auseinander zu setzen. Teil davon war auch meine Beziehung zu meinem Erzeuger. Aus diesem Lebenslauf habe ich unter "4. Vater" geschrieben:

Mein Vater war bei meiner Geburt 31 Jahre alt. Da mein Vater die Familie als ich 1 ½ oder 2 Jahre alt war verließ, bin ich ohne Vater aufgewachsen. Kennen gelernt habe ich ihn so mit 8, 9 Jahren, als er mal ins Heim wegen Erziehungsproblemen kam. Er hatte sich mit der Schwester unterhalten und mir hinterher nur gesagt, daß ihm das alles ziemlich egal sei. Dann fehlte wieder jahrelang jeder Kontakt. Mit 15 (das alter hatte ich damals geschätzt) bin ich am 23.12. zu ihm und habe ihm ein Geschenk gebracht. Habe dann noch bei ihm zu abend gegessen und dachte eigentlich, das war's. Als er jedoch am nächsten Morgen im Heim anrief, ich dürfte über Weihnachten zu ihm, habe ich gehofft und mir gewünscht, wieder in eine Familie zu kommen. Ich ging anfangs dann alle 14 Tage am Wochenende zu ihm, weil ich mich aber mit seiner Frau nicht verstand, hatte ich dann keine Lust mehr hinzugehen. Ein Jahr später verlief das Ganze noch mal fast genauso ab. 2 Jahre arbeiteten wir in der gleichen Firma, man sah sich zwar, aber gesprochen wurde nicht viel. Seit Oktober 1988 fehlte dann wieder jeder Kontakt. Seit 1990 schreiben wir uns gegenseitig im Jahr zwei Karten, 1x Geburtstag, 1x Weihnachten. Im Juli 1992 habe ich ihn dann wieder gesehen. Uns verbindet eigentlich nichts, wir kennen uns, weil wir verwandt sind.

Aufgrund meines Aufenthaltes im Bundeswehrkrankenhaus wurde ein Gutachten erstellt.

Dieses Treffen im Juli 1992 dauerte ein paar Stunden, in denen die aktuellen News ausgetauscht wurden. Vor allem ging es um meine "Fahnenflucht" und den rechtlichen Konsequenzen. Eine Meinung hatte er dazu allerdings nicht.

Während meines Aufenthalts im Krankenhaus hatte ich einen Jungen kennen gelernt und mit ihm viel gesprochen. Er war damals der erste, dem ich anvertraut hatte, daß ich homosexuell bin. Für mich war dieses Coming-Out eine ungemeine Befreiung und ich konnte seit Jahren endlich wieder weinen. Die Jahre davor kamen mir dann rückwirkend wie tot vor.

Nach dem Coming-Out mußte ich das allen meinen Verwandten mitteilen und es kamen auch (erst einmal) nur positive Reaktionen zurück.

Auch meinem Erzeuger hatte ich das geschrieben und er meinte, daß es OK für ihn wäre. Das meinte ich auch, bis zu dem Zeitpunkt, als ich wieder einmal im Allgäu war und bei ihm kurz zu Besuch war. Wir wollten zusammen zu der Schwester seiner Frau gehen und ich wollte wissen, ob sie "es" denn schon wüßten. Für mich war das einfach nur interessant, ob ich es selbst sagen sollte, oder ob es eben schon bekannt wäre. Da erhielt ich die Antwort, daß sie selbstverständlich nicht darüber gesprochen hätten und daß "das" natürlich "unter uns" bliebe. Das tat weh, weil ich merkte, daß sie sich dafür schämten.

1994/1995 habe ich ganz aktiv mit der Aufarbeitung meiner Vergangenheit im Heim, den emotionalen Mißhandlungen, dem sexuellen Mißbrauch, begonnen. Dies beinhaltete in erster Linie das Überleben heute und die konsequente Loslösung vom Täter und den anderen Verantwortlichen, die nie etwas gesehen haben wollen.

Teil dieser Auseinandersetzung war auch die Betrachtung meiner verwandtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere das zu meinem Erzeuger.

Ich hatte die Herausforderung gesucht und ihm geschrieben, was ich von meiner Vergangenheit wußte, habe Fragen gestellt, warum das so war, warum er sich nicht kümmerte, warum er nicht in der Lage ist, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Ich war auf der Suche nach Antworten, nach Erklärungen. Ich wollte wissen, wer ich bin, woher ich komme, was genau geschehen ist.

Mein Erzeuger hielt mir in einem Brief von Februar 1995 nur vor, ich würde wieder alles kaputt machen und daß ich noch viel zu lernen hätte.

Ich habe gelernt und die Konsequenzen getroffen. Ich habe erkannt, daß ich niemals einen Vater haben werde. Ich habe erkannt, daß er sich vor seiner Verantwortung immer gedrückt hatte. Ich habe erkannt, daß ich aufhören mußte darauf zu hoffen, daß er jemals ein Vater für mich werden würde. Ich habe erkannt, daß ich keinen Kontakt mehr zu ihm haben möchte und dies schließlich auch in die Tat umgesetzt.

Seit Februar 1995 habe ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Er erfährt noch nicht einmal über meine Cousine etwas, weil sie mir versprochen hat, nichts von mir zu erzählen. Abgesehen davon, hatte er auch nur sehr selten nach mir gefragt.

Seit meinem damaligen Umzug 1996 von Tiergarten nach Spandau weiß er noch nicht einmal mehr meine Adresse. Heute unterbinde ich eine Kontaktaufnahme durch einen Sperrvermerk beim Melderegister.

Um diesen Teil meiner Vergangenheit abschließen zu können möchte ich mich auch namentlich von meinem Erzeuger trennen und bitte deshalb um Löschung meines zweiten Vornamens "Horst".


Dem Antrag wurde mit Urkunde über die Änderung der Vornamen mit Wirkung des 5. Januar 2002 entsprochen (Bezirksamt Mitte von Berlin).

 


 

Nachtrag:

Der Herr über Leben und Tod
hat dich gerufen.
Du aber wirst weiterleben
in den Herzen der deinen.

Plötzlich und unerwartet müssen wir Abschied nehmen von meinem lieben Mann, unserem guten Vater, Schwiegervater, Opa, Bruder und Onkel

21. August 2003

In stiller Trauer:
E. Strauch, Ehefrau
im Namen aller Angehörigen

Aussegnung am Montag, dem 25. August 2003, um 12.45 Uhr auf dem Zentralfriedhof in Kempten.

Von Beileidsbezeigungen bitten wir Abstand zu nehmen.



Davon erfahren habe ich am 26. August. Damit ist das Kapitel Erzeuger abgeschlossen.