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Zu Hause ist wo anders - Die Flucht

 

 

10 Jahre

Ohne mich noch einmal umzudrehen gehe ich durch das große alte Holztor der Burghalde und den schmalen, steilen Weg hinunter zur Straße. Unten muß ich nur über die Kreuzung und in die gegenüberliegende Straße hinein. Nach ein paar Minuten stehe ich vor dem Haus. Ich gehe durch das graue flache Holztor. Es duftet nach Backwaren, aber die Bäckerei hat längst zu. Es ist still. Ich laufe die Treppe hoch, den Flur entlang, vorbei am Treppenansatz zum nächsten Stockwerk und dann stehe ich vor der Türe. Die Türe zu meiner neuen Wohnung.

Ich schließe auf. Heiße, abgestandene Luft drückt mir entgegen. Ich öffne das Fenster und setze mich auf das Fensterbrett. Die Holzkiste mit meinen Sachen darin steht mitten in dem kleinen Zimmer. Der Tisch. Der Schrank. Die Wände. Alles ist kahl und leer. Ich fange an, meine Sachen auszuräumen. Den meisten Kram verstaue ich in dem Kasten unter dem Bett. Mir wird heiß. Ich schwitze. Aber ich möchte alles weggeräumt haben.

Nach drei, vier Stunden bin ich fertig. Ich habe Durst, aber der Kühlschrank ist leer. Ich gehe zur Tankstelle um die Ecke und hole mir eine Cola und etwas zum Essen. Auf dem grünen Stuhl wippe ich leicht vor und zurück. Die untergehende Sonne strahlt auf den Spiegel über dem Waschbecken und hüllt den Raum in glänzendes Licht. Ich blase den Rauch meiner Zigarette in die Strahlen und sehe mich um. Hier wohne ich jetzt also. Besser als im Heim auf jeden Fall. Ich stelle den kleinen Tischfernseher von Helmut auf den Kühlschrank und suche nach einem Sender. Ein Film läuft, aber ich sehe nicht richtig zu.

Bilder tauchen auf. Der Abschied von Oswalda. Der Geburtstagskuchen zu meinem siebzehnten, den ich selbst backe. Abschlußfahrt nach Bonn. Helmut im Bungalow in Italien. Weinender Florian am Tisch. Barbara beim Spielen mit den Kleinen. Sieglinde beim Abspülen. Der Heizungskeller. Hermann und Rechnungswesen. Helmut. Edeltraud überrascht mich beim Wichsen. Höfle. Helmut. Radtour mit Rupert. Weihnachten bei meinem Vater. Mit Fred im Waschraum. Nikolaus. Martin neben mir mit nackten Oberkörper. Der Heizungskeller. Jochen und Mathe. Helmut. Trainingsfleißigster. Edeltraud bringt mich ins Schlafzimmer. Helmut. Dario und ich auf dem Sofa. Walter. Dieter liegt weinend im Bett. Walter. Edeltraud auf dem Liegestuhl. Ohrfeige von Schwester Concilia. Ohrfeige von Schwester Anni. Der braune Matsch. Andreas und ich vor Mutter Oberin. Neonröhren und bunter Teppich. Nuß-Nougat-Brot. Dunkelheit. Ein kleiner Junge vor der großen braunen Türe. Das, das bin ich. Ja. Ich erkenne ihn ..., mich. Ja, das bin ich vor zehn Jahren! Ein Schauer überkommt mich. Ich schrecke auf und blicke mich um. Der Fernseher läuft und murmelt unverständliches Zeug. Ich schalte ihn aus und lege mich ins Bett. Das erste mal benutze ich das Bettzeug meiner Mutter. Heute sind zehn Jahre zu Ende gegangen.

Ich wache früh auf und habe kaum geschlafen. Ich bin noch müde, aber ich stehe trotzdem auf. Es ist ein warmer Sommertag und ich ziehe mich an und gehe zum Friedhof. Vor dem Grab meiner Mutter bleibe ich stehen. Ich lese immer wieder die Zahlen 23.9.1931 - 3.1.1977 bis ich sie nicht mehr erkennen kann. Tränen laufen herunter. Wenige andere Menschen sind noch hier. Sie legen Blumen auf die Gräber. Ich nicht. Ich gehe zurück in meine neue Wohnung und schlafe noch ein bißchen.

Varigotti

"Wir suchen noch einen Dritten, der mit nach Italien fährt!" Birgit sieht mich fragend an. "Was glaubst du, was die Schwestern denken, wenn eine Erzieherin aus dem Heim mit einem Ehemaligen nach Italien fährt?" "Laß’ sie doch denken, was sie wollen. Du bist draußen und was ich in meiner Freizeit mache, geht die gar nichts an." Also gehe ich ein paar Tage später früh am Morgen zu ihr durch die dunklen Straßen. Ihr alter VW Golf steht schon vor ihrer Türe. Ich klingle und Birgit öffnet mir. "Morgen, willst du noch ‘nen Kaffee?" "Ja, gerne! Ich bin noch ganz schön müde." "Das ist Manuela." Manuela sitzt am Küchentisch und gähnt mich an. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Auto und fahren los. Langsam wird es heller. Birgit fährt und ich suche nach dem richtigen Weg. Manuela schläft auf der Rückbank. Ich sehe Birgit von der Seite beim Fahren zu. Birgit ist richtig dick. Neben ihr komme sogar ich mir schlank vor. Ihr scheint das völlig egal zu sein. Sie ist immer lustig. Irgendwie beneide ich sie darum.

Gegen Mittag kommen wir oben auf dem Paß an. "Ich brauche eine Pause" sagt Birgit etwas atemlos "die Lenkerei macht mich ganz verrückt." Sie fährt auf einen Parkplatz und wir steigen aus. Mir tut alles weh. Kalt ist es hier oben. Wir trinken Kaffee und essen ein paar belegte Brötchen und fahren nach ein paar Minuten weiter. Mit der Zeit werden die hohen Berge weniger. Grüne Hügel strecken sich flacher werdend vor uns hin. Es ist wie ein Traum. "Links oder rechts?" "Was?" "Links oder rechts! Schnell! Links oder rechts!" Birgit lacht und fährt einfach auf die Wiese am Straßenrand. Ich ziehe meine Jogginghose und mein T-Shirt aus. Beim Fahren blies mir der Wind warm ins Gesicht. Aber hier steht die Luft. Selbst die Boxershorts kleben an meinen Beinen. "Machen wir eine Pause?" "Ah, du lebst noch!" Manuela steigt verschlafen aus dem Auto. "Wo sind wir?" Ich zeige ihr auf der Landkarte wo wir sind. "Vielleicht noch zwei oder drei Stunden, dann sind wir am Meer!" Birgit liegt ein paar Meter entfernt auf einer Decke und schläft. "Die ist ganz schön fertig." "Ja doof, daß ich noch keinen Führerschein habe." "Ich würde ganz gerne fahren, aber sie läßt mich ja nicht." "Du Spinner, du bist ja noch nicht einmal volljährig!" "Na und? Ein Jahr noch." Ich lege mich neben Birgit auf die Decke und döse ein bißchen vor mich hin. Ich schaue in die Baumspitzen. Es ist total ruhig hier. Sogar die Vögel sind still. Der blaue Himmel, die hellgrünen kleinen Blätter, die Sonne, die durch sie hindurch blinzelt. Warmer sanfter Wind streift über meine nackte Haut. Es ist, als ob mich jemand streichelt.

"Los, weiter, mir ist langweilig." Manuela rüttelt Birgit wach und geht zum Auto zurück. "Die ist ja witzig, schläft die ganze Zeit ..." Birgit schüttelt etwas genervt den Kopf und zieht dann ohne Vorwarnung die Decke weg. "Aufstehen du Schlafmütze!" lacht sie und ich rolle ins Gras. Wir haben die richtige Straße gefunden und fahren durch eine hügelige Landschaft dem Meer entgegen. "Da! Da ist es!" Birgit zeigt auf das Meer und fängt an zu singen. Bei ihrem Gesang muß ich lachen und Birgit singt noch lauter.

"Da ist ein Parkplatz ... Da war ein Parkplatz." "Sag das gefälligst früher." Birgit kneift mir ins Bein. "Wenn du so langsam bist. Bremsen, das mittlere Pedal, du weißt schon." "Da!" Birgit bremst und ich rutsche fast vom Sitz. "Ätsch, das kommt davon, wenn man sich nicht anschnallt!" Wir steigen aus und gehen ans Wasser. Ich stehe bis zu den Schenkeln im Wasser. Es ist kühl. "Kommt schon!" Ich würde am liebsten hinein springen, die Abkühlung täte mir gut, den klebrigen Schweiß abwaschen, aber Birgit ruft mich. "Wir müssen noch einen Platz für unsere Zelte finden, bevor es dunkel ist." Wir fahren am Ufer entlang und halten Ausschau nach geeigneten Plätzen. "Ich habe keine Lust mehr zum Fahren." "Wir biegen einfach in die nächste Seitenstraße ab und dann werden wir schon etwas finden!" Ich versuche Birgit aufzumuntern, sie gähnt pausenlos. Birgit biegt in eine schmale Straße hinein, die sich bald darauf zu den Hügeln hin abhebt. Als die Straße hinter dem ersten Hügel verschwinden möchte, hält Birgit an. "Da unten ist doch Platz!" Ich nicke Birgit zu und kurz darauf halten wir an der Stelle, die wir eben von oben auserkoren haben.


Birgit stellt das Auto in eine Bucht an der Kurve. "Wir gucken erst einmal." Manuela und ich nicken. Direkt an der Straße ist eine 7 oder 8 Meter hohe Mauer. An der Kurve ist eine Art Einstieg. Schmale Stufen führen nach oben. Die Mauer ist oben etwa ein Meter breit. Dahinter, etwas abgesetzt, ist ein 4, 5 Meter breiter Flur mit hohem verdorrtem Gras und einzelnen Bäumen. Die nächste Mauer ist nur aus losen Steinen zusammen gesetzt. Auf der nächsten Etage stehen dann schon mehrere Bäume. "Das muß ein Weinberg sein." "Ja, sieht so aus." "Was haltet ihr von dem Platz hier. Unsere zwei Zelte passen hier doch ideal hin und auf der breiten Mauer können wir kochen." Wir gehen zurück zum Auto und holen unsere Sachen. "Ich fahre das Auto noch weiter von der Straße weg. Nicht, daß jemand hinein fährt. Hier hast du den Zweitschlüssel, falls ich den verliere. Aber nicht fahren, hörst du." "Ja, ja" antworte ich nur kurz und steige dann wieder zu unserer Plattform hoch. Als die beiden Zelte endlich aufgebaut sind, ist es dunkel. Birgit und Manuela machen das Abendessen, während ich unseren Vorrat in mein Zelt verstaue. "Hier." "Danke." Ich nehme ein belegtes Brot, setze mich auf die Mauer und lasse meine Beine herunter hängen. "Flieg’ bloß nicht herunter!" Birgit sieht mich erschreckt an. "Nein, nein. Keine Panik." Wir sitzen noch eine Weile da und schauen aufs Meer. "Sieh mal, die vielen kleinen Lichter auf dem Meer." Die kleinen Lichter wackeln über das Meer und das Wasser glitzert. Ich putze mir die Zähne und steige verklebt in mein Zelt. "Gute Nacht."

"Frühstück ist fertig!" Ich öffne mein Zelt und blinzle in die Morgensonne. "Ist das nicht herrlich hier!" Birgit strahlt mich an. Ich grinse bei ihrem Gesichtsausdruck und steige aus meinem Schlafsack. "Guten Morgen. Na, gut geschlafen?" "Ja, und ihr?" "Es war ein bißchen hart, trotz meinem Speck, aber ganz okay." Birgit lacht. "Ich bin das Schlafen im Zelt auch nicht gewöhnt, aber es wird schon gehen." Manuela sieht nicht gerade frisch aus. Nach dem Frühstück erkunden wir die nähere Umgebung. Wir steigen unseren Hügel hinauf und finden zwei riesige runde Wasserbehälter. "Hier ist die Zuleitung." Ich drehe den Wasserhahn auf und nach wenigen Sekunden kommt frisches klares Wasser heraus. "Praktisch, da können wir unsere Kanister auffüllen." "Ja, und uns abends das Salz vom Meerwasser abwaschen." Manuela steht stumm daneben während Birgit und ich unseren Alltag organisieren. Wir gehen zurück zu den Zelten und räumen unsere Sachen weg.


Wir gehen auf dem heißen Sand und suchen uns einen ruhigen Platz. "Kommt ihr zwei gleich mit?" "Meine Güte, bei euch Jungs geht das immer schnell." Birgit zwängt sich aus ihrem Kleid. "Ich bin gleich soweit!" "Was ist mit dir?" Manuela liegt mit T-Shirt auf ihrer Decke und liest. "Ach, geht schon mal. Ich bade später." "Okay." Und Birgit rennt lachend in die Fluten. Ich bin nicht so mutig. Schritt für Schritt wate ich dem kühlen Naß entgegen. "Los du Feigling!" Schon werde ich von Birgit aufs empfindlichste naßgespritzt. Ich tauche ein. Mein Herz schlägt schneller. Am Meeresboden stoße ich mich ab und tauche wieder auf. Ich lasse mich nach hinten fallen und spritze jetzt zurück. Wir albern eine Zeitlang herum und laufen dann ziemlich außer Puste zu unseren Decken zurück. Birgit und ich reden den ganzen Tag. Über das Heim. Da geht uns der Gesprächsstoff nie aus. Manuela sitzt oder liegt die ganze Zeit meist stumm daneben und liest. "Was ist mir ihr?" frage ich Birgit beim Eis holen. "Ich weiß auch nicht was sie hat." Birgit hört sich resigniert an. "Hey, verführe mich bloß nicht zum Rauchen. Ich habe es mir gerade abgewöhnt!" Ich stecke mir eine Kippe an und blase den Rauch in ihre Richtung. "Du bist gemein. Oh, wie das durftet." "Du kriegst aber keine." "Noch nicht mal erwachsen und schon so frech." Wir schauen uns in die Augen und müssen grinsen.

"Heute abend gibt es Spaghetti, einverstanden?" "Au ja." "Gute Idee." Wir sind zurück auf unserer Plattform. Wir gehen zu den riesigen Wasserbehältern und füllen die Kanister mit frischem Wasser. "So, umdrehen und wehe, wenn du schaust!" Ich steige in einen der beiden Behälter und schwimme ein paar Runden. Das Wasser ist klar und kühl. Hier drin sind die Geräusche von draußen nur ganz dumpf wahrzunehmen. "Du kannst wieder heraus kommen" tönt es von weitem. Ich steige heraus und "Lächeln!" knips und vor lauter Lachen plumpse ich in das Riesenwaschbecken zurück.

Mit einem Campingkocher kochen wir zuerst die Nudeln und dann die Soße. Es dauert nicht lange und wir drei sitzen auf dem Mauervorsprung und sehen dem Sonnenuntergang mit einem gesättigten Grinsen zu. Ich zünde mir eine Zigarette an und dann kann sich Birgit nicht mehr beherrschen. "Gib sie her!" Birgit stürmt auf mich zu. Ich versuche zu fliehen, aber gegen ihre gewaltige Masse habe ich keine Chance. Ich ergebe mich und biete ihr untertänigst eine Zigarette an. Sie zieht daran und ... "Oh, tut das gut." Dann fangen wir an zu lachen und können nicht mehr aufhören. Als ich fast aufgehört habe zu lachen, kichert Birgit von vorn los. Ich kann mich nicht mehr halten und lache weiter bis mir der Bauch weh tut.


"Ih, guck mal." Birgit zeigt auf den Topf mit den Spaghetti von gestern abend. "Wir hätten ihn wohl doch sauber machen sollen." Ich muß schon wieder kichern. "Mmh, lecker. Spaghetti mit Ameisenzulage." Birgit lacht auch und verzieht ihr Gesicht. Wir gehen jeden Tag zum Baden. Manchmal ist es so heiß, daß ich mich mit meinem Handtuch zudecke.

Nach eineinhalb Wochen sieht mich Birgit ernst an. "Morgen fahren wir zurück. Ich kann nicht mehr. Manuela ist nur muffelig. Das macht mich ganz krank." Ich nicke. Also bauen wir am nächsten Morgen unsere Zelte ab und fahren zurück nach Kempten.

Viola

Viola ist auf Besuch. "Du warst in Italien und hast mir nicht mal eine Karte geschrieben." "Ich habe niemanden eine Karte geschrieben." "Aber du bist doch mein Freund." "Ja." Bisher haben wir uns hin und wieder geküßt. Manchmal streichle ich dabei ihren Busen. Sie legt ihre Arme um meinen Hals und küßt mich. Sie drückt mich nach hinten auf das Bett und bewegt sich hin und her. Wir knutschen herum. Irgendwann liege ich oben und bewege meinen Unterkörper vor und zurück. Sie stöhnt leise. Mir fällt die Nacht mit Petra ein. Aber dieses mal ist es anders. Ich habe einen Steifen und fühle mich nicht lächerlich. Nur verdammt unsicher. Wir pressen unsere Unterleiber zusammen. Viola stöhnt. Ich fasse ihr unter die Bluse. Nach ein paar Minuten kommt es mir. Ich bin außer Atem und schaue sie an. Sie befreit sich. "Ich muß mich erst einmal wieder richtig anziehen." Und geht auf die Toilette. Meine Hose ist naß. Ich ziehe sie schnell aus und wische mich mit einem Handtuch trocken. Als Viola zurück kommt, sitze ich mit frischer Hose am Tisch und rauche eine Zigarette. "Ich muß jetzt gehen." "Ja, tschüs." Wir küssen uns kurz. Seitdem ist Viola verschwunden.

Der Ernst des Lebens

Ich stehe am ersten September in der Eingangshalle der Spedition Lebert und warte. Ein Junge und ein Mädchen kommen dazu. "Fängst du auch heute neu an?" Ich nicke. Wir stellen uns vor und reden über unsere Erwartungen. Ein alter Herr kommt die Treppe herunter. "Sie sind sicher Fräulein Wendel." Karin nickt. "Sie beginnen ihre Ausbildung in der Buchhaltung. Und sie Herr Kind kommen in die Rechnungsabteilung, sie können gleich mitkommen. Sie werden gleich vom Lagermeister abgeholt." Und weg sind sie. Nach ein paar Minuten kommt ein Italiener. "Ah, du bist Stefan, äh? Ich bin Mario. Komm mit, ich zeige dir den Umkleideschrank." Wir gehen in den Keller und er zeigt mir meinen Schrank. "Du solltest dir ein Schloß besorgen. Laß dir Zeit beim Umziehen und komm dann in die Halle raus." Ich ziehe mich um. Alles ist noch neu hier. Ein großer Duschraum. Flache Bänke. Das erinnert mich an den Sport in der Schule. Ich gehe in die Halle und suche Mario. Er zeigt mir die Halle, die einzelnen Plätze. "Hier ist nur Fernverkehr. 10 ist Berlin, 20 Hamburg, 30 Hannover und so weiter. Steht alles dran." Ich sehe mich um. Die Halle ist riesig. Am Vormittag machen wir immer erst einmal die Halle sauber." Er drückt mir einen Besen in die Hand und ich kehre den ganzen Vormittag die Halle. "Eh, Stefano, Mittagpause!" Ich gehe in die Kantine und esse. Karin und Erwin sehen mich und setzen sich zu mir. Wir unterhalten uns über den ersten Vormittag. Den anderen ging es nicht viel besser. Ablage machen. Ordner auf. Ordner zu. Nach der Pause sitze ich in einem kleinen Häuschen, in dem die Arbeiter warten, bis sie von Mario Arbeit kriegen. Ein kleiner Mann kommt um die Ecke und plötzlich sitze ich allein hier drin. "Hast du nichts zu tun?" Der kleine Mann spricht sehr laut, eigentlich schreit er. "Ich warte auf Mario." sage ich leise. "Du kannst doch nicht warten, bis dir eine Lagermeister Arbeit gibt. Du mußt dir schon selber eine suchen." "Was denn?" "Wurde heute schon die Halle gekehrt?" "Ja!" "Und die Rampe?" "Was?" "Komm mal mit." Er rennt vor mir her, schnappt sich einen Besen und geht mit mir zu den LKW-Rampen. "Hier, rund um die ganze Halle muß alles gekehrt sein." Ich nehme den Besen und springe die Rampe hinunter. Als ich Feierabend habe, bin ich fertig. Bei der Stempeluhr treffe ich meinen Vater. "Na wie war dein erster Arbeitstag." "Ging so. Ich habe den ganzen Tag nur gekehrt." "Na, das geht vorbei." Ich sitze im Bus und fahre zu meiner Wohnung. Meine Hände tun weh.

So vergeht die erste Woche. Am Vormittag kehre ich die Halle, am Nachmittag die Rampe. Am Ende der Halle mache ich immer Pause. Ich setze mich zwischen zwei Lkws und rauche eine Zigarette. Hier sieht mich keiner. Meine Hände haben Blasen.

Glück und Unglück

"Los Stefan, den kriegst du noch. Zeig was du kannst!" Mein Trainer schreit mir am Spielfeldrand zu und läuft mit. Ein Stürmer der gegnerischen Mannschaft rennt an der Linie mit dem Ball Richtung unser Tor. Ich renne neben ihm her. Er stößt den Ball ein paar Meter vor und will an mir vorbei. Aber ich bin schneller und schiebe den Ball beim Rutschen über die Seitenlinie. Kurz darauf spüre ich einen Schlag auf meinen rechten Knöchel. Ich ziehe meine Beine an und kann vor Schmerz kaum atmen. "Los, Stefan, aufstehen!" Aber ich kann nicht. Der Schiedsrichter pfeift und der Trainer kommt zu mir gerannt. "Was ist?" "Mein Knöchel" presse ich heraus. Er zieht mich hoch und ich humpele von ihm gestützt zu einer Bank. "Laß’ mal sehen." Heinz öffnet meinen Fußballschuh und mein Knöchel schwillt apfelgroß an. Mein Trainer bringt mich zu den Umkleidekabinen. "Fährst du ihn gleich ins Krankenhaus?" Gernot, unser Co-Trainer hilft mir ins Auto. Mein Bein wird geröntgt und anschließend in Gips gelegt. "Du hast Glück gehabt, es ist nur eine Bänderüberdehnung, kein -riß, und nichts ist gebrochen. Aber ein, zwei Wochen muß der Gips schon dran bleiben." Scheiße. Gernot fährt mit mir zurück nach Hegge zu seinem Haus. "Ausgerechnet heute, wo wir unsere Fußballerfeier haben." "Ich habe gar keine Lust mehr darauf." "Ach komm, das geht schon." Wir sitzen in seinem Haus und feiern. Aber nach feiern ist mir nicht zumute. "Ich will gehen" sage ich nach einer Weile zu Gernot. "Ich fahre dich heim." "Nein, ich schlafe heute nacht bei meinem Onkel." Hubert und Thea schauen mich bemitleidend an. Mit Gernots Krücken bewege ich mich in ihr Gästezimmer und lege mich hin. "Willst du noch was trinken?" Ich nicke nur und Thea macht mir noch einen heißen Kakao. Während ich ihn langsam trinke sitzt sie neben mir auf dem Bett und fährt mir hin und wieder durch meine Haare. Meine Augen tränen. Aber es ist nicht nur der Schmerz in meinem Bein.

Am nächsten Morgen rufe ich meinen Vater an und sage ihm, er solle mich am Montag bei Herrn Schuster krankmelden. Irgendwie hat der Gips auch etwas Gutes.

Nach knapp zwei Wochen komme ich wieder zum Arbeiten. Nehme einen Besen und die Mülltonne und kehre darauf los. Bis Herr Schuster auf mich zu stürmt. "Wegen einem Gipsbein hättest du ruhig trotzdem zum Arbeiten kommen können. Wir hätten für dich schon etwas im Büro gefunden." So ein A***h, denke ich mir und kehre weiter.

Mir macht das Arbeiten in der Lagerabteilung keinen Spaß. Als ich zwei Wochen später wieder wegen einem Fußballspiel krank bin, stecken sie mich danach in die Buchhaltung. Also kontiere ich jetzt Rechnungen. Das heißt, ich stemple rote und schwarze Zahlen auf Rechnungen. Dann schreibe ich Überweisungen und vor Feierabend lege ich alles in irgendwelche Ordner ab. Das macht zwar auch keinen Spaß, aber die Leute sind netter.

Harry

Es klingelt. Zwei mal. Das ist für mich. Ich schalte den Fernseher aus und gehe nach unten. Peter und Manfred schauen ober durch die Stangen herein. "He hallo." "Hi, was verschafft mir die Ehre? Kommt rein." Wir gehen nach oben. Die beiden haben Bier mitgebracht. Ich trinke auch eins, obwohl es mir nicht besonders schmeckt. "Kommst du mit ins Jugendhaus, heute ist Discoabend und wir legen auf. Die zwei haben schon im Heim Massen an Platten gesammelt. Wir gehen durch den Hofgarten zum Jugendhaus. In der Teestube setzen wir uns in ein altes Sofa und trinken Bier und rauchen Zigaretten. Komische Leute hier. Von Jung bis Alt und alle recht bunt. Auch Harry. "He Manne, was geht ab?" Manfred und Harry unterhalten sich. Harry ist ein Punk. Bunte Haare und alte zerfetzte Klamotten. Ich sehe ihn an und er gefällt mir. Ist es sein Aussehen? Er ist bildhübsch. Seine Haut ist sonnengebräunt, er hat dunkle Augen und eigentlich auch dunkle Haare. Oder ist es seine Art, nichts richtig ernst zu nehmen? Vielleicht beides.

Peter und Manfred legen Platten auf und Harry tanzt. Naja, er springt mehr wie ein Indianer um ein Lagerfeuer. Ich sehe ihm zu. "Eh, Steven, sitz hier nicht so faul herum!" Neben mir pflanzt sich Siggi, der ältere Bruder von Peter und Manfred. "Hi, Siggi. Was machst du denn hier?" "Ich komme gerade von Ulm. Scheiß Bundeswehr. Fahren wir heute noch ins Melo?" "Ich bin ziemlich müde." "Ach, schlafen kannst du noch genug, wenn du tot bist!" Um elf macht das Jugendhaus zu. Zu fünft fahren wir zum Ritterkeller, wie meistens nach dem Jugendhaus. Wir gehen hinein und der muffige Geruch schlägt mir entgegen. Der Ritterkeller ist ein altes rundes Kellergewölbe, das in den Berg der Burghalde gebaut wurde. Wir unterhalten uns und spielen Billard. Um halb eins fahren wir dann nach Neugablonz ins Melodrom. Tagsüber ist das Melo ein Kino. Wir sitzen in einer Reihe und sehen den anderen beim Tanzen zu. Das Publikum besteht zur Hälfte aus Wavern, die anderen sind Punks oder Alternative. Oder Leute wie ich. Mit Turnschuhen, Jeans und T-Shirt. "Eh, komm tanzen, Alter." Siggi geht zur Tanzfläche und legt mit einem Pogo los. Temple of Love von Sisters of Mercy. Ich gehe hinterher und tanze auch. ,Life is short and love is always over in the morning ...’ Beim Tanzen vergesse ich die Welt um mich herum. Die Lichter blitzen durch mich, die Bässe hämmern in meinem Körper. Nach einer halben Stunde bin ich völlig fertig. Naßgeschwitzt gehe ich aufs Klo und halte meinen Kopf unter kaltes Wasser. Am Tresen kaufe ich mir ein Bier und gehe zurück in die Halle. Irgendwo setze ich mich in einen Kinositz und lasse die Musik auf mich herunterprasseln. Harry sitzt plötzlich neben mir. Wir unterhalten uns, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Um vier Uhr liege ich in meinem Bett und hole mir einen runter. Harry.

"Du siehst noch ganz schön müde aus, bist wohl gestern spät ins Bett gekommen?" Ich sitze am Küchentisch bei meinem Vater und seiner Frau. Sie wäscht jetzt meine Wäsche. Aber immer nur eine Hose. Sie meinte, ich könne doch nicht jeden Tag eine frische Hose anziehen. Also bringe ich ihr immer nur eine Hose, ein paar wenige T-Shirts und die Unterwäsche. Den Rest bringe ich zur Wäscherei. Doof, daß ich keine Waschmaschine habe, aber in den kleinen Zimmer hätte sie auch keinen Platz. "Ich habe mit dem Führerschein angefangen." "Was, jetzt schon?" "Ja klar. Damit ich ihn habe, wenn ich achtzehn bin." "Und dann gleich ein Auto, oder?" "Ja, man kommt hier ja sonst nicht weg." "Und wer soll das bezahlen?" "Keine Ahnung. Muß ja nicht teuer sein. Irgend eine alte Schüssel." "Wie war euer Spiel heute?" "Zwei zu eins verloren." Mein Vater lacht. "Ich bin jetzt Stürmer. Weil ich so schnell rennen kann." Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch. Wir essen.

Es klingelt. Zwei mal. Ich gehe hinunter und sehe ... Helmut. "Hallo Stefan." Scheiße, er hat mich schon gesehen. "Von dir hört man ja überhaupt nichts mehr." "Naja, ich arbeite die ganze Woche." "Ich gehe heute ins Grill. Kommst du mit? Dann können wir ein bißchen reden." Reden? "Andreas ist auch jeden Samstag im Grill. Er hat auch schon nach dir gefragt." Mir ist langweilig. Also gehe ich mit Helmut in die Tanzschule Grill. Viele Jugendliche stehen vor der Türe. Wir gehen rein und setzen uns an die Bar. "Willst du auch ein Bier?" Ich nicke. Wir reden. Das heißt, Helmut redet, ich höre zu, nicke ab und zu oder lache manchmal. Manchmal bringt er mich einfach zum lachen. Ich rauche von seinen Zigaretten. "Nimm dir ruhig!" Andreas kommt und setzt sich zu uns. Er ist hier so eine Art Hausmeister. Nebenher Geld verdienen. Er ist arbeitslos. "Du mußt auch noch einen Tanzkurs machen" sagt Andreas zu mir. "Oh nein. Ganz bestimmt nicht." Ich hasse diese Standardtänze. Die meisten Jugendlichen zeigen hier ihr Können und ich muß immer wieder grinsen. "Wir brauchen für morgen noch einen Babysitter, hast du Zeit?" "Ja, warum nicht." "Du kannst vorher noch bei uns mit zu Abend essen, wenn du willst." Ich nicke. "So um sieben?" "Okay."

Gegen halb sieben klingle ich bei Helmut an der Türe. Auf der Rückseite des Hauses sehe ich das Heim. Es sieht kleiner aus als früher. Seine Frau öffnet. "Toll, daß du Zeit hast. Komm rein. Das Essen ist gleich fertig." Ich betrete die Wohnung und gehe ins Wohnzimmer. Helmut sitzt vor dem Fernseher. "Hier sind die Videos. Wenn du willst, kannst du auch die hier sehen." Er zeigt mir eine paar Videokassetten. Nackte Frauen und Männer beim S**. "Wenn du einen Gespritzten willst, hier hängt die Asbachflasche, Cola ist im Kühlschrank. Normalerweise schläft Sandra durch. Es ist nur für den Notfall, daß du uns anrufen kannst." Helmut geht in die Küche. "Wie lange dauert es noch?" "Noch etwa eine halbe Stunde." "Hast du schon die neue Halle vom Heim gesehen?" "Was für eine?" "Komm mit, ich zeige sie dir!" Wir gehen in den Keller und kommen in eine Halle. Er schließt die Tür hinter sich ab und schließt die nächste Türe auf. Wir kommen in eine weitere Halle. "Hier sind jetzt alle Maschinen, die ich für den Hof brauche, Rasenmäher, Traktor, den Heuauflader. Es war ein harter Kampf, aber letztendlich hat die Stadt es dann doch eingesehen." Ich gehe durch die vielen Maschinen und will wieder zurück. "Tun wa’s noch’n bißchen?" Ich erstarre. "Deine Frau wartet mit dem Essen." "Ach komm, nur ganz kurz." Er faßt mir in die Hose und mein S*****z wird wieder steif. Ich kann mich nicht bewegen. Er nimmt meine Hand und führt sie zu seinem S*****z. Mir gefallen doch Jungs. Warum ... ich höre auf nachzudenken. Mechanisch reibe ich an ihm. Er stöhnt kurz auf und ich ziehe meine Hand zurück. Ich spüre ein kurzes Zucken zwischen meinen Beinen und ziehe meine Hose hoch. Zitternd gehe ich in seine Wohnung zurück. Angi hat inzwischen den Tisch gedeckt und Sandra ins Bett gebracht. Wir essen und gleich darauf gehen Helmut und Angi los. Ich schalte den Fernseher ein und sehe mir ,Wir Kinder vom Bahnhof Zoo’ an: Christiane sitzt in der Küche. Von neben an kommt lautes Stöhnen. Sie öffnet die Türe. Detlef liegt bei einem Mann im Bett und wird von ihm gebumst. Es ist erregend und abstoßend zugleich. Ich nehme etwas von der Asbachflasche und spule den Film ein Stück zurück. Ich sehe mir die gleiche Szene noch ein paar mal an. Ich habe einen Steifen und hole mir einen runter. Dann schalte ich den Fernseher aus und rauche ein paar Zigaretten. Mir ist schlecht. Als Helmut und Angi wieder kommen, gehe ich in meine Wohnung zurück.

KE-AL 6

"Und denke immer daran: Fünfzig sind erlaubt!" Mein Fahrlehrer droht mir lachend mit dem Zeigefinger. Wir fahren zum Eisstadion. Auf dem fast leeren Parkplatz parke ich rückwärts ein und fahre leicht gegen einen Laternenpfahl. "Warum sagst du denn nichts?" "Wieso? Jetzt weißt du wenigstens wo das Auto aufhört." Der Prüfer steigt hinten ein. "So, Herr Strauch. Die theoretische Prüfung haben sie ja bestanden. Nun zeigen sie mir doch bitte, ob sie auch fahren können." Mit zitternden Knien fahre ich los. Auf der Einfallstraße fahre ich genau fünfzig. Neben mir rauschen Autos vorbei. Fünfzig, Stefan! Ich schaue immer wieder auf die Tachoanzeige. "Da vorn dann bitte rechts." Ich sehe artig in die Spiegel, setze den Blinker, drehe mich um und achte auf Radfahrer. Zum Glück kam keiner. Ich hätte ihn wohl trotzdem nicht gesehen. "Immer gerade aus, so lange ich nichts sage, bitte." Ich fahre in der Innenstadt von Ampel zu Ampel. Nur den Motor nicht abwürgen. "Da vorn dann bitte rechts ... und die nächste bitte links ... hinter dem roten Auto parken sie dann bitte rückwärts ein. Ich setze den rechten Blinker und bleibe neben dem roten Auto stehen. Ich schaue nach hinten und rolle langsam Richtung Straßenrand. Mein Fahrlehrer dreht mit seinem Zeigefinger mit. Als er die Richtung ändert, schlage ich das Lenkrad in die andere Richtung. "Und, stehen sie richtig." Ich bin etwas irritiert und sage einfach "Ja." "Gut, dann fahren sie jetzt bitte weiter." Ich fahre weiter und fühle mich jetzt ein bißchen sicherer. "Die nächste bitte links." Ich blinke und sehe in die Spiegel und ordne mich in der Mitte der Fahrbahn ein. "Wo geht es denn zurück zum Hauptbahnhof." "Da müßten wir jetzt rechts abbiegen" erklärt ihm mein Fahrlehrer. "Dann fahren sie jetzt bitte zurück zum Hauptbahnhof." "Ich habe mich schon links eingeordnet!" Darauf falle ich nicht herein. "Das geht schon in Ordnung. Fahren sie bitte hier rechts. Ich werde langsamer und sehe meinen Fahrlehrer an. "Ist schon okay, Stefan. Das zählt nicht als Fehler. Ehrenwort." Ich glaube meinem Fahrlehrer und biege rechts ab.

Langsam rolle ich auf den Seitenstreifen, stelle den Motor ab, ziehe die Handbremse an und löse den Gurt. Ich schaue zum Prüfer. "Herzlichen Glückwunsch. Sie haben bestanden. Den Führerschein bekommen sie aber erst, wenn sie achtzehn geworden sind." Der Prüfer steigt aus und mir fällt ein Stein von Herzen. "Ich habe bestanden!" rufe ich meinem Fahrlehrer zu. "Was anderes habe ich von dir auch nicht erwartet. Du kannst schließlich Auto fahren. Meine Azubikollegin Karin steht mit einem verweinten Gesicht auf dem Gehweg. "Nicht bestanden?" Sie schüttelt den Kopf. "Warum?" "Ich bin über einen Zebrastreifen gefahren, als auf der anderen Seite schon Leute darauf waren." "Scheiße." "Ja, Scheiße."

An meinem achtzehnten Geburtstag fahre ich nach dem Arbeiten gleich zur Zulassungsstelle. Meinen Führerschein abholen. "Herzlichen Glückwunsch, das ist sicherlich ein schönes Geschenk zu ihrem Geburtstag." Mit einem Lächeln gibt mir die Frau hinter dem Schalter meinen Führerschein. "Hier müssen sie noch unterschreiben." Anschließend gehe ich zu Angelika. "Guck mal, was ich hier habe!" Und halte ihr meinen Führerschein hin. "Toll Stefan. Willst du einen Kaffee?" "Aber immer." Wir trinken Kaffee und unterhalten uns. "Na, wie feierst du deinen Geburtstag?" "Gar nicht." Nicole kommt auf mich zugestürmt. Sie klettert auf meinen Schoß und strahlt mich an. "Warum nicht?" "Ich weiß nicht, es würde mich irgendwie ans Heim erinnern." "Es ist dein erster Geburtstag draußen." "Ja." Ich gehe in meine Wohnung. Niemand ist da. Niemand besucht mich. Ich bin allein. Ich schalte den Fernseher an und rauche Zigaretten ohne Ende. Irgendwann schalte ich den Fernseher wieder aus und blättere in den Fotoalben meiner Mutter. Tränen laufen mir herunter. Ich lege mich ins Bett und heule los. Von Krämpfen geschüttelt rolle ich mich zusammen. Ich weine. Ich weine ohne Ende.

"Lebert Kempten, Strauch, Guten Tag." "Hallo, hier ist Helmut." "Was gibt’s?" "Du willst doch ein Auto. Ich habe da vielleicht eins für dich. Komm doch morgen vormittag um zehn bei mir vorbei."

Ein roter Audi 80 mit einem riesigen ,Werner oder was!’ Aufkleber steht vor seinem Haus. "Er ist zwar schon zehn Jahre alt, aber er läuft wie am Schnürchen. Achthundert will mein Kollege von der Feuerwehr dafür haben. Fahre ihn doch einfach mal Probe." Ich setze mich in das Auto und fahre alleine einmal um den Block. Ich fahre Auto. Ich lache und bin total aufgeregt. Als ich zurück bin, kommt Helmut auf mich zu. Hundert Mark konnte ich ihn noch herunter handeln." "Ich nehme ihn." "Siebenhundert. Abgemacht. Nächsten Mittwoch kannst du ihn haben. Bis dahin ist er umgemeldet. Bis dann." Helmut und ich gehen hinauf in seine Wohnung. "Na, du stolzer Besitzer deines ersten Autos" lacht mich Angi an. "Am besten ist, wir melden ihn als Zweitwagen von mir an, dann ist es billiger für dich." Ich bin einverstanden. Eine Woche später habe ich mein erstes Auto. KE-AL 6. "Kempten, Allgäu und mein Hobby." Aber ich kann über meinen Witz nicht lachen. Ich muß zum Einkaufen und ich fahre hin. Ich muß zum Briefkasten und ich fahre hin. Obwohl ich dafür länger brauche als zu Fuß. Aber ich muß fahren, fahren, fahren. Vor allem kann ich jetzt mit dem Auto zum Arbeiten fahren und muß nicht mehr eine halbe Stunde auf den Bus warten.

Andreas ist vor ein paar Wochen über mir eingezogen. In ein noch kleineres Zimmer. Weil er aus seiner alten Wohnung heraus geflogen ist. Er hat aus einer Kasse Geld genommen. "He, Andreas, aufwachen. Wir fahren nach Italien." "Was?" "Ja los, du Schlafmütze." In der Unterhose öffnet er die Zimmertüre und hat eine Morgenlatte. "Du solltest dich schämen" grinse ich ihn an. "Was kann ich denn dafür." Er lächelt verlegen und zieht sich eine Hose darüber. "Ich will heute abend zum Gardasee fahren, morgen früh wären wir da. Hast du Lust?" "Ich habe kein Geld." "Was machst du denn mit deinem ganzen Geld. Immer nur Klamotten kaufen? Das kriegen wir schon irgendwie hin."

Ich fahre die ganze Nacht. Auf der alten Brennerstraße wird mir teilweise ganz schön mulmig. Ich muß öfter anhalten, weil Andreas nie weiß wo wir sind. Ich nehme die Karte und zeige es ihm. "Hier müssen wir runter von der Autobahn. Paß auf!"

Als es langsam heller wird, treffen wir am Gardasee ein. Ich bin hundemüde und fahre auf einen Campingplatz. Eine Frau winkt uns heran. Sie macht uns einen guten Preis und ich stelle mein Auto auf die freie Wiese. Wir bauen das Zelt auf und ich lege mich erst einmal hin und schlafe. Abends gehen wir in eine Pizzeria. Ich bezahle alles. Andreas hat kein Geld. Sonst leben wir von belegten Broten und Milch und Säften aus Kartons. Wir liegen am Strand oder erkunden die Landschaft um uns herum. Mit der Zeit nerven wir uns nur noch an. "Morgen müssen wir zurück fahren. Das Geld reicht gerade noch für die Heimfahrt."

Am Samstag nachmittag fahre ich zum Hofgarten. Manfred, Harry und ein paar andere liegen in der Sonne. Ich gehe zu ihnen. Harry hat kein T-Shirt an, nur kurze Hosen. Ich sehe seinen nackten Oberkörper und Beine. "Hi, was läuft?" "Wo kommst du denn her?" "Aus Italien!" Und halte meine Autoschlüssel in die Luft. "Du hast ein Auto? Geil, laß mal sehen." Harry steht auf und ich gehe mit ihm zu meinem Auto. Manfred kommt hinterher. "Komm, laß’ uns herumfahren!" Wir steigen ein und fahren einfach durch die Stadt. Abends gehen wir ins Jugendhaus, anschließend in den Ritterkeller. "Jetzt brauchen wir nicht immer auf Siggi warten, wenn wir ins Melo wollen." Also fahren wir ins Melo. "Können wir bei dir pennen?" fragt mich Harry auf der Rückfahrt. "Na klar." Im Flur liegt noch eine alte Matratze. Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe die beiden nebeneinander liegen. Ich sehe Harrys Oberkörper und kann ihn ungestört anstarren.

Edda

Nach einer Weile stehe ich auf, hole frische Brötchen und koche Kaffee. Langsam kommt wieder Leben in die zwei. "Guten Morgen, ihr Schlafmützen." Die beiden kriechen unter ihren Decken hervor und stehen in Unterhosen mitten im Raum. Ich konzentriere mich auf das Frühstückvorbereiten. "Heute abend ist Fete am Herrenwieserweiher. Hast Du Bock, dahin zu fahren." "Ja, warum nicht" antworte ich und ärgere mich schon über meine Zusage. Fete am Herrenwieserweiher heißt vor allem Alkohol ohne Ende und Berge von Menschen und Stechmücken und feuchte Kälte.

Nachmittags sind wir im Hofgarten und liegen in der Sonne. "Hi Edda, kommst du heute auch zum Herrenwieser?" Harry, wir sind schon zu dritt. "Ja." Edda setzt sich neben uns und baut sich eine Tüte. Ihre Augen sehen aus, als ob sie auf ihrem Gesicht aufgesetzt werden. Sie zieht ein paar mal und reicht sie dann an Manne weiter. Er zieht und hustet. Alle lachen. Ich bin dran. Ich ziehe und atme tief ein. Der Geruch gefällt mir, aber ich habe nie verstanden, was einen da so benebelt. Edda liegt auf dem Rücken und Harry raucht die Tüte zu Ende.

Später fahren wir los. Wir verlassen die Bundesstraße und die Straße wird immer enger, kurviger und bergiger. "Hier rein!" ruft Harry zu mir. Beinahe hätte ich die Zufahrt verpaßt. Ein schmaler Waldweg führt scheinbar ins Nirgendwo. Ich versuche, den Schlaglöchern auszuweichen. Trotzdem wackeln wir uns stetig näher an den Weiher heran.

Ich fahre auf die Seite und mache den Motor aus. "Warum fährst Du nicht ganz vor?" will Manne wissen. "Wenn die anderen kommen parken sie mich ein und ich habe nicht vor, hier zu übernachten!" "Warum denn nicht?" "Keine Lust." Sie steigen aus und laufen zu der großen Wiese. Ich trotte hinter ihnen her und beobachte ein paar kleine Kinder, die sich einen riesigen Ball zuwerfen. Eine Familie grillt, oder versucht es zumindest. Hellgraue Rauchschwaden ziehen von ihrem kleinen Grill in die Ferne.

Die anderen sitzen auf einer Decke und rauchen schon wieder eine Tüte. Ich lehne ab, rauche eine Zigarette und schaue auf das Wasser. Ein Vater planscht mit seinem kleinen Sohn. Neid kommt in mir auf.

Irgendwann verschwindet die Sonne hinter den Baumkronen. Die Familien sind verschwunden. Dafür ist wohl das gesamte Jugendhaus schlagartig eingetroffen. Alle grölen herum, trinken Bier und lachen. Irgendwie gehöre ich nicht dazu. Ich trinke auch Bier, weil es nichts anderes gibt. Und rauche. Zigaretten. Edda sitzt die ganze Zeit neben mir und redet. Ich höre ihr zu und manchmal sage ich auch etwas. Ich kenne sie sonst nur betrunken oder bekifft oder beides zusammen. Aber jetzt wirkt sie völlig normal.

Viele sind schon wieder verschwunden. Manne und Harry sehe ich auch nicht mehr. Wir sitzen um das Lagerfeuer. "Und jetzt Nacktbaden!" schreit einer. "Los komm mit!" Edda zerrt mich hoch, reißt sich die Klamotten vom Leib und springt in das Wasser. Ich ziehe mich schnell aus und gehe ins Wasser. Schneller als sonst. Niemand soll mich nackt sehen. Das Wasser ist nicht gerade warm aber es geht. Ich tauche ein paar Meter im Dunkeln. Als ich auftauche, kommt Edda zu mir. Wir stehen uns gegenüber und aus dem Wasser schauen nur unsere Köpfe. Sie umarmt mich uns drückt ihre Lippen auf die meinen. Bei mir regt sich etwas. Aber nur wenig. Ich spüre ihre S****h***e an meinem S*****z. Ist es zu kalt oder habe ich zuviel getrunken? Ich löse mich von ihr. Kaltes Wasser kommt an meine Brust, wo eben noch Eddas Körper war. "Mir ist kalt" sage ich kurz und gehe schnell aus dem Wasser. Ich ziehe mich rasch an und verschwinde.

Die weißen Mittelstreifen verschwinden unter der Motorhaube. Irgendwann bin ich auf dem Parkplatz vor meinem Zimmer.

Trainer

Ich fahre nach Hegge und sehe vor dem Vereinsheim die Jungen von der A-Jugend stehen. Ich halte an und frage, wo sie spielen. "In Altusried, aber unser Trainer ist im Krankenhaus." "Ich kann euch ja helfen mit dem Schreibkram." Die ältesten der Jungen sind so alt wie ich. Achtzehn. Nur weil ich 12 Tage zu früh geboren bin, darf ich nicht mehr in der A-Jugend spielen. Die Erwachsenen spielen mir zu brutal. Nach zwei Spielen habe ich aufgehört. Manche sind erst sechzehn. Wir fahren nach Altusried. In der Umkleidekabine fülle ich den Spielbericht aus. Die Jungen ziehen sich um und ich beobachte sie heimlich. Sie verlieren das Spiel und nun ist es meine Aufgabe, sie wieder aufzubauen. Beim Duschen sind die meisten wieder auf andere Gedanken, jetzt sehe ich Bernhard ganz. Samtige goldbraune Haut, schlanker Körper, unbehaart. Wie Harry. Mir wird heiß und ich sehe schnell weg.

Seitdem bin ich Trainer. Als ihr eigentlicher Trainer aus dem Krankenhaus zurück kommt, macht er noch bis zu den Sommerferien mit, dann bin ich alleine. "Du bekommst alle Unterstützung die du brauchst." Ich bekomme sie, aber beim Training und meistens auch beim Spiel bin ich allein. Jetzt gewinnen die Jungen wieder und es ist leichter, sie zu motivieren. Wir haben meistens viel Spaß. Und beim Training bin ich immer mit dabei.

Ich habe Urlaub und schlafe aus. Es klopft an meiner Zimmertüre. "Wer ist da?" "Rudi." Ah, Rudi, mein dicker Nachbar von oben. Er ist vierzig oder fünfzig und wohnt oben neben Andreas in einem ebenso kleinen Zimmer. In Boxershorts mache ich ihm auf. "Du Stefan, ich muß dringend nach Kaufbeuren, kannst du mich hinfahren?" "Ich habe kaum noch Benzin im Tank, das muß noch bis Ende der Woche reichen!" "Ich bezahle dir das Benzin, ist doch selbstverständlich." Also fahren wir nach Kaufbeuren, zu seiner Freundin. "Es dauert nur eine Stunde oder so. Hole mich nachher einfach hier wieder ab, okay?" Ich spaziere durch Kaufbeuren und kaufe gleich ein bißchen was fürs Wochenende ein. Beim Einsteigen zeigt mir Rudi, daß mein Auto auf der Beifahrerseite am Boden durchgerostet ist. "Scheiße, den kriege ich so nie durch den TÜV." "Ich kenne einen Automechaniker. Der verkauft auch billig Autos. Wir können ja schnell noch bei ihm vorbei fahren." Sein Freund zeigt mir einen schwarzen Golf mit Schiebedach. Er gefällt mir sofort. "Es fehlt nur noch der Fahrzeugbrief, aber der müßte in zwei Wochen da sein. Zweitausendzweihundert. Das ist fast geschenkt." "So viel habe ich nicht." "Rufe doch bei der Sparkasse an, die geben dir bestimmt einen Kredit." Ich bekomme einen Kredit. Aber das Geld gebe ich für alles mögliche aus.

"In mein Auto regnet es unten rein, ich brauche jetzt den Golf." Ich bin bei dem Automechaniker. "Der Fahrzeugbrief fehlt noch immer. Tut mir leid." "Bei dem Schneematsch rostet der bestimmt bald völlig durch." "Du kannst ja in der Zwischenzeit den hier haben." Er zeigt auf einen weinroten Mitsubishi Galant. "Bist du schon mal mit Automatik gefahren?" Ich schüttle den Kopf. "Das ist ganz einfach." Also fahre ich jetzt mit dem Flaggschiff durch die Gegend.

"Wo ist Manne?" Harry schaut mich fragend an. "Du weißt es nicht?" "Nein, was?" "Manne ist mit einem Kumpel nach Amerika. Die wollen auswandern." "Da bin ich ja gespannt, wann sie wieder kommen." Harry pennt jetzt jedes Wochenende bei mir. Ich habe ihm einen Schlüssel gegeben. Aber die meiste Zeit sind wir ohnehin zusammen unterwegs. Er sitzt mit einer labberigen Unterhose am Tisch. Ich sitze auf dem Boden und kann seine E**r sehen. Meine Hände werden feucht. Ich ziehe mein T-Shirt nur zum Schlafen aus. Ich schäme mich vor ihm. Und kurze Hosen trage ich sowieso nicht. "Ich lege mich aufs Ohr." Harry liegt mit seiner Unterhose ohne Decke auf der Matratze. Ich betrachte ihn und hole mir dabei einen runter. So würde ich auch gerne aussehen.

Heilig Abend

"Kommst du Heilig Abend zu uns?" Mein Vater und ich bekleben Kartons mit Etiketten. "Nö, ich will Weihnachten mit ein paar Freunden feiern." Er ist einen Moment still. "Lore gibt sich solche Mühe. Sie wäscht deine ganze Wäsche. Ein bißchen könntest du ihr schon Anerkennung zeigen." Ich sage nichts mehr. Seitdem bringe ich meine gesamte Wäsche zur Wäscherei. Die fragen wenigstens nicht: "Was, schon wieder zwei Hosen?"

Ich sitze mit Harry vor dem Fernseher. Wir trinken Wein und rauchen Zigaretten. Wir reden stundenlang. In seiner Nähe fühle ich mich wohl. Wir lästern über Weihnachten. Weihnachten. Ich erzähle ihm von Weihnachten bei meiner Mutter. Wie schön es war. Von den Weihnachtsfeiern im Heim und bei meinem Vater und seiner Frau. Er muß lachen, als ich ihm von der ,Wochenend’ erzähle. Ich sage ihm, wie sehr ich mich danach sehne, Weihnachten in einer richtigen Familie zu feiern. Harry scheint mich zu verstehen. Irgendwie.

Kurz nach Neujahr klingelt es nachts um eins. Ich wache auf. Wer will denn jetzt noch zu mir. Verschlafen gehe ich nach unten. "Manne? Eh Manne!" Ich schließe die Haustüre auf und umarme ihn. Ich bin froh, ihn wieder zu sehen. Manne und Manfred kommen mit hoch. "Wo sind eure Sachen?" "Die haben wir in einer Kiestruhe versteckt. Wir wußten ja nicht, ob du da bist. Wir wissen auch nicht wo wir pennen können." "Na hier, wo sonst!" Wir holen ihre Sachen und sie erzählen mir von ihrem Trip in die USA. "Einmal hat es abend voll gepißt und wir wußten nicht, wo wir waren. Wir haben unser Zelt aufgestellt und am nächsten Morgen, als wir aufwachten, waren wir mitten auf einem Schulhof." Ich lache lauthals los. "Das glaube ich nicht." "Das stimmt wirklich. Das war vielleicht peinlich, wie wir mit kurzen Hosen aus dem Zelt stiegen und die ganzen Kids uns anstarrten." Ich kriege mich nicht mehr ein. "Machst du jetzt deine Ausbildung weiter?" "Nö, keinen Bock." "Was hast du jetzt vor?" "Keine Ahnung, mal sehn." Wir reden noch eine Weile. "Ich muß langsam mal ins Bett. Ich muß morgen arbeiten. Ihr könnt ruhig liegen bleiben. Wenn ihr geht, werft ihr den Schlüssel einfach in den Briefkasten.

Manne wohnt jetzt erst einmal bei mir. Harry kommt kurze Zeit darauf dazu, weil er zu Hause hinaus geflogen ist. Jetzt habe ich zwei Untermieter. Es ist zwar ziemlich eng, aber die beiden machen meinen ganzen Haushalt, gehen einkaufen, spülen ab. Irgendwann haben die beiden wieder einen anderen Pennplatz gefunden. Es ist auch ganz angenehm, wenn ich nach dem Arbeiten meine Ruhe habe.

Das erste Mal

Mein Autodealer hat den Mitsubishi Galant verkauft. Dafür habe ich jetzt einen pissgelben Fiat 151. Nach langem Orgeln springt er endlich an. Ich fahre zum Ritterkeller. Vor der Türe sehe ich Manne. Ich setze mich neben ihn und stecke mir eine Zigarette an. "Hi Alter. ganz schön kalt was. Warum gehst du nicht hinein?" "Hier, willst du auch mal?" Manfred hält mir eine zwei Liter Flasche Lambrusco hin. "Ich darf sie nicht mit hinein nehmen." Ich nehme einen Schluck. Es schmeckt klebrig süß. "Ist ein Kilo Zucker drin, dann dröhnt es besser." Manfred klärt mich auf. Nach einer Weile finde ich alles nur noch witzig. Als die Flasche leer ist gehen wir in den Ritterkeller hinein. Das heißt ich gehe und Manne torkelt neben her. Heidi und Mary sind auch da. "He, wo kommt denn ihr her?" "Von draußen." Manfred lacht und torkelt weiter. "Hi, lange nicht mehr gesehen. Seid ihr mit dem Auto da?" "Nein, wir wohnen jetzt in Kempten und brauchen zum Glück keines mehr von unseren Brüdern." "Wo denn?" "Gleich hier um die Ecke." "Praktisch." Ich treffe die beiden Schwestern sehr selten. Ab und zu fahren wir zusammen ins Melo. Obwohl die beiden völlig unterschiedlich aussehen, verwechsle ich immer ihre Namen. "Tolle Faschingsdekoration. Ein Bier, bitte." Jackson gibt mir ein Bier und quatscht mich dann zu. "Ist umsonst. Heute ist Faschingsparty, jeah." Er dreht die Musik auf und singt dazu. Naja, singen möchte ich das nicht nennen. "Wir fahren ins AHA, willst du mit?" schreit mir Heidi ins Ohr. "Wo ist denn das?" "In Marktoberdorf." "Ich dachte ihr habt kein Auto mehr." "Andi fährt." Heidi zeigt auf ein Mädchen, das am Billardtisch neben Mary steht. "Ja klar, warum nicht." Wir fahren in dem roten VW Jetta ihrer Eltern viel zu schnell über die Bundesstraße. Ich sitze neben Andi und wir unterhalten uns. Über Arbeit, Urlaub, Jugendhaus. Im AHA reden wir weiter. Lachen. Rauchen Zigaretten. Wir verstehen uns auf Anhieb.

Am nächsten Wochenende fahre ich zu ihr nach Hause. Ihre Mutter öffnet und ruft nach Andi. "Komm rein." Andi schließt die Zimmertüre hinter mir. "Die wird nachher wieder eine Menge fragen." "Und, was unternehmen wir?" "Keine Ahnung, schlag du etwas vor." "In Hegge ist heute Faschingsball der Fußballer. Da kommen wir zumindest umsonst hinein." Wir fahren mit dem Klapper-Fiat nach Waltenhofen. Vor der Sporthalle parke ich ein und bleibe sitzen. Wir schauen uns an. "Und nun?" frage ich sie. "Ich weiß nicht." "Sind wir jetzt Freund und Freundin?" frage ich kindisch. Wir lachen los und küssen uns dann ganz sanft. Hand in Hand gehen wir in die riesige Halle. Tausende tanzen und lachen umher. Viele klopfen mir auf die Schulter. "Aha, jetzt mit Freundin" und andere dumme Sprüche. "Mich nervt das hier." Andi nickt zustimmend. "Was sollen wir tun, überall wird Fasching gefeiert?" Andi hebt ihre Schultern. "Wir können zu mir fahren, da haben wir wenigstens unsere Ruhe." Andi nickt und wir verlassen den Raum der Fröhlichkeit.

"Auch Wein?" frage ich sie. Wir unterhalten uns. Trinken Wein. Rauchen Zigaretten. Ab und zu küssen wir uns. "Ich glaube, man muß nicht drei Monate warten, bis man miteinander schläft." Was hat sie gesagt? "Das finde ich auch." Habe ich das gesagt? Was soll ich denn nun machen? Wir sitzen auf meinem Bett und ziehen uns gegenseitig aus. Mein S*****z wird steif. Sie legt sich auf den Rücken und zieht mich auf sie. "Ich nehme die Pille." Das erklärt alles. "Du mußt ganz vorsichtig sein" sage ich zu ihr und muß ein bißchen grinsen. Eigentlich müßte es ja das Mädchen zum Jungen sagen. Sie spreizt ihre Beine, nimmt meinen S*****z und flutsch, drin ist er. Endlich, ich schlafe mit einer Frau. Es ist warm und feucht. Ich bewege mich kurz und dann kommt es mir auch schon. Sie stöhnt und ich bewege mich weiter. Irgendwann krallt sie ihre Finger in meine Rippen und erschlafft dann. Ich lege mich neben ihr auf den Rücken und sie setzt sich auf. "Denke jetzt nichts falsches, aber ich will jetzt eine rauchen." Ich nicke und Andi steckt mir auch eine an. "Das war echt gut." Meint sie mich? Ich ziehe mir rasch etwas über und renne aufs Klo. Klappernd komme ich zurück und krieche wieder zu ihr ins Bett. "Und da sagtst du, du bist zu dick, man kann ja alle Rippen sehen." Andi sitzt auf mir und fährt mit ihren Händen über meine Brust. Dann beugt sie sich nach vorn und schiebt meinen S*****z wieder in sich rein. Sie reitet munter drauf los und mit der Zeit ist mir fast ein bißchen langweilig. Mir ist es längst wieder gekommen, aber sie scheint ihren Spaß zu haben. Schließlich bleibt sie erschöpft auf mir liegen. Irgendwann schlafe ich ein. Jetzt bin ich ein richtiger Mann.

Nizza

"Du sollst zum Eggert hoch kommen." Mein Kollege sieht mich bedauernd an. "Ihr Zwischenprüfungsergebnis ist ja ganz gut, aber ihr Zwischenzeugnis liegt bei weitem unter Durchschnitt. Ich möchte ihnen nahelegen, sich mehr anzustrengen. Ansonsten sehe ich das Ausbildungsziel gefährdet. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den richtigen Ausbildungsberuf gewählt haben. Was haben sie dazu zu sagen?" "Nichts." Ich hebe die Schultern. Pause. "Sie können jetzt gehen."

"Herr Strauch, können sie mal kurz zu mir herüber kommen?" Ich gehe zu Fräulein Quin ins Personalbüro. "Herr Eggert hat sich bei mir beschwert. Er wünscht, daß sie sich anständig kleiden. Und er möchte nicht, daß sie Ohrringe tragen. Tragen sie Ohrringe?" "Nur die kleinen Stecker." Ich zeige sie ihr. "Die sind mir gar nicht aufgefallen. Tun sie ihm den Gefallen und stecken sie ihr Hemd rein." Ich gehe.

Als ich in der Halle meinen Vater treffe, läßt er sich auch noch aus. "Herr Eggert hat mit mir gesprochen. Ich soll mal ein ernsthaftes Wort mit dir reden. Nimm doch die Ohrringe beim Arbeiten heraus. Und steck das Hemd rein." "Warum sagt er mir das denn nicht selbst?" Er antwortet nicht.

Am Freitag vor Pfingsten fahre ich zum Jugendhaus. Seit ein paar Wochen habe ich endlich meinen schwarzen VW Golf. Mit offenen Fenstern und Schiebedach fahre ich mit dröhnender Musik auf dem Parkplatz beim Hofgarten. Peter, Manfred und seine Freundin Christine kommen mir entgegen. "Habt ihr Lust nach Italien zu fahren? Ich war vor zwei Jahren mit Birgit in Varigotti. War voll geil da." "Wann denn?" wollen sie wissen. "Jetzt?" Wir fahren zu mir, zu Peter und zu Manfred seiner Freundin und packen ein paar Sachen ein. Ich fahre die ganze Nacht und schlafe in der Morgendämmerung fast ein. "Laß mich doch mal fahren. Ich habe jetzt doch auch einen Führerschein." Ich sitze neben Peter und mir wird flau im Magen. Er krallt sich ans Lenkrad und verlenkt jedesmal beim Schalten. Nach einer halben Stunde fahre ich wieder selbst. "Tut mir leid, Peter, aber bei deinem Fahrstil kann ich wirklich nicht schlafen." Wir sind in Italien. Es ist heiß. Trotz geöffneten Fenstern und Schiebedach. Gegen Mittag sind wir da. Ich finde die Plattform wieder und erinnere mich an den Urlaub mit Birgit. Mein erster richtiger Urlaub. "Laß’ uns zum Meer zum Baden." Es ist schrecklich heiß und wir tollen im warmen Wasser herum. Irgendwann bin ich nur noch müde und schlafe am Strand ein. Nach ein paar Stunden wache ich auf. Meine Haut glüht. Mein Rücken ist knallrot. Die anderen schlafen auch. Ich wecke sie. Wir sind alle etwas benommen von der Hitze und suchen uns einen schattigen Platz. "Wo wollen wir schlafen?" frage ich die anderen. "Hier nicht. Laß’ uns noch ein Stückchen weiterfahren." Wir fahren am Strand entlang, finden aber keine geeignete Stelle. "Sollen wir zurück fahren?" "Nein, ich habe keine Lust, den ganzen Weg zurück zu fahren. Es kommt bestimmt gleich was." Nach einiger Zeit kommen fremde Schilder: ,Duane - 5 km’. "Wir sind gleich in Frankreich!" "Auch gut, warum nicht?" In Nizza geht die Straße direkt am Strand lang. "Hier bleiben wir!" Ich suche einen Parkplatz und wir gehen erst einmal einkaufen. "Ganz schön teuer hier!" Wir essen am Strand. Die Sonne geht langsam unter. Die Hitze läßt nach. Ein lauer Wind weht über uns hinweg. Ich sehe auf das Meer. Hier würde ich gerne bleiben. Wir fahren ein Stück zurück und ich biege in die nächste Seitenstraße zum Meer hin ab. Der Weg wird schmaler und endet schließlich direkt am Strand. Ich stelle das Auto unter einen kleinen Baum. Wir gehen den Kiesstrand hinunter und legen uns in unsere Schlafsäcke. Es ist fast dunkel. Unter klarem Sternenhimmel schlafe ich ein.

"Bojour! - Allemand?" Neben dem schmalen Weg steht versteckt ein kleines Holzhaus. Ein älteres Ehepaar steht auf dem Balkon und winkt uns zu. Wir winken zurück. "Hoffentlich verjagen die uns nicht." "Ach, die scheinen ganz nett zu sein."

Wir fahren zum Strand von gestern und holen uns was zum Frühstücken. Dann liegen wir den ganzen Tag in der Sonne und planschen ab und zu im Meer. Ich fühle mich frei. Abends duschen wir. Am Gehweg stehen ein paar Duschen. Ohne Kabine. Völlig alleinstehend direkt am Straßenrand. Wir lachen uns kaputt, während vorbeifahrende Leute uns irgend etwas zurufen und uns winken.

Zum Einkaufen gehen wir in einen großen Supermarkt. "Hier ist ein Photoautomat, laßt uns Bilder machen!" schlägt Christine vor und hüpft vor uns herum. Typisch Kind denke ich mir. Christine ist erst 14. Aber die Bilder machen wir trotzdem.

"Wir müssen langsam los, morgen habe ich Berufsschule" sage ich zu den anderen am Montag Abend. Ich fahre in die Dämmerung hinein und als es schließlich dunkel ist, sind wir immer noch in Frankreich. Es fängt an zu regnen. Die anderen schlafen. Die Straße ist schmal. Manchmal tauchen plötzlich schwache Scheinwerfer auf und flitzen an mir vorbei. Ich werde müde, aber ich muß weiterfahren. Seit Ewigkeiten habe ich keinen Abzweig mehr gesehen. Hoffentlich stimmt die Richtung. Ich werde nervös. Die Tanknadel wandert auf die rote Fläche. Als sie fast auf Null steht, sind wir an der Schweizer Grenze. Es ist ein Uhr nachts. Ich frage die Zöllner nach einer offenen Tankstelle und finde sie dann kurz darauf auch. Ich fahre weiter, die anderen schlafen schon wieder. ,San Bernardino Tunnel’. Ich habe keine Autobahnplakette. Aber das ist mir jetzt egal. Die Reifen dröhnen in dem langen Schlauch. Die gelb-rötlichen Lichter wirken einschlummernd. Meine Augen fallen zu. Ich öffne das Fenster. Es dröhnt. Ich rauche eine Zigarette nach der anderen um mich wach zu halten.

Ich schrecke hoch. Ein Schlag am rechten Hinterrad. Das Auto fährt noch im Tunnel. Manne schaut verschlafen hoch. "Was war das." "Nichts." Ich zittere am ganzen Körper. Am Ende des Tunnels bleibe ich auf der Ausfahrt stehen. Motor aus. Augen zu.

Ich wache fröstelnd auf. Es dämmert ein bißchen und es schneit. Barfuß und nur mit Shorts und Träger-Shirt bekleidet tapse ich nach draußen und suche im Kofferraum etwas warmes zum Anziehen. Ich klappere vor Kälte und ziehe mir schnell etwas an. Dann sehe ich mir den rechten Hinterreifen an. An der Felge ist eine kleine Delle. Der Tunnel. Der Mantel scheint in Ordnung zu sein. Das Auto steht ziemlich ungünstig am Rande der Abfahrt. Zum Glück wurden wir nicht erwischt. "Was ist?" fragt mich Peter, als ich wieder einsteige. "Da war vorhin so ein komisches Geräusch, aber es ist alles Okay." Wir fahren weiter.

Etwas verspätet, hundemüde aber rotbraun sitze ich in der Berufsschule. Die anderen schauen mich neidisch an. "Wo warst du denn?" "Übers Wochenende in Nizza." Und ich muß lächeln.

Macke

Wir sitzen im Hofgarten und trinken ein paar Bier und rauchen Zigaretten. Weil es heiß ist, kühlen wir uns im Springbrunnen immer wieder ab. Mit klitschnassen Klamotten legen wir uns wieder hin und labern ohne Ende. "Wer brüllt denn da so herum?" Ein lautes Schreien tönt von der Lorenzkirche her. "Ach, das ist bestimmt Macke. Der hängt in letzter Zeit auch immer hier herum." Ein schmaler, schlanker Junge mit bunter Hose und freiem Oberkörper kommt auf uns zu. Er ist ziemlich blaß und seine dunklen Haare hängen ihm in sein freches Gesicht. Ich beneide ihn um seinen Körper. So schlank, so jung, so unbehaart, so schön. Verdammt. Ich werde rot und drehe mich weg. Ein roter VW Jetta kommt auf dem Parkplatz. Andi. Ich verstehe gar nicht, warum sie sich schon wieder in mich verliebt hat. Ich mag Andi ganz gerne, aber ich liebe sie nicht. "Hi" sagt sie leise, blinzelt in die Runde und setzt sich neben ich. "Hallo, sind wir gerade zusammen oder getrennt?" Andi lacht und holt aus aber ich bin schneller. "Denkste." "Wir haben halt eine besondere Beziehung." Andi nickt bedeutungsvoll. "Mit regelmäßigen Unterbrechungen."

Andi rast durch die Straßen. Ich sitze daneben und lasse den Wind in mein Gesicht blasen. Warum kann ich nicht so aussehen wie Macke oder Harry? "Was ist mit dir?" "Ein bißchen müde, und die Hitze."

Es ist ein heißer Sommer. Am 8.8.88 heiraten lauter Verrückte. Die Kirchenglocken lärmen den ganzen Tag. Die Brautpaare und ihr Anhang kommen nach der Zeremonie in den Hofgarten zum Bilder machen. Wir lachen uns kaputt. Die Leute sind entsetzt.

Manchmal kochen Manne und Harry bei mir etwas und wir essen dann alle im Hofgarten. Essen auf Rädern. Wir liegen den ganzen Nachmittag in der Sonne. Abends gehen wir ins Jugendhaus. Danach in den Ritterkeller, der jetzt auch Starclub heißt. Dann bleiben meistens nur noch Harry und ich übrig. Während meines Urlaubs fahren wir fast jede Nacht zur Autobahnraststätte Allgäuer Tor und trinken Kaffee. "Was hast du in Zukunft vor?" "Irgendwann gehe ich nach Berlin." "Dann mußt du mich mitnehmen." Ich verspreche es Harry. Ich hätte ihn gerne bei mir.

No Future?

"Nahverkehr, Strauch." "Hier ist Fräulein Quin, kommen sie bitte zu Herrn Eggert." Ich gehe hoch und klopfe an. "Herein." Ich betrete das Zimmer und bleibe vor Herrn Eggerts Schreibtisch stehen. Fräulein Quin steht neben ihm. "Wo waren sie letzten Freitag?" "Krank." "Und am Nachmittag?" "Das weiß ich nicht mehr." "Ach sie wissen Montag schon nicht mehr, wo sie am Freitag Nachmittag waren. Dann sind sie vielleicht für den Beruf des Speditionskaufmannes nicht geeignet." "Vielleicht war ich zu Hause oder spazieren." "Zu Hause waren sie jedenfalls nicht, wir haben das überprüft." "Und, was haben sie herausgefunden?" "Werden sie hier nicht frech! Ich glaube nicht, daß sie krank waren. Sie melden sich auffallend oft an Freitagen telefonisch krank." "Ich hatte am Freitag eine Magenspiegelung." "Und das soll ich ihnen glauben?" "Ja, natürlich." "Ich erwarte unverzüglich eine Bestätigung ihres Arztes wegen der Magenspiegelung." "Ich war krank, das muß ihnen reichen. Sonst noch etwas?" Herr Eggert schüttelt irritiert den Kopf. Ich gehe hinaus und schließe hinter mir die Türe. Später ruft mich Fräulein Quin in ihr Büro. "Herr Eggert war stinksauer und hat herum geschrien, weil sie so gelassen vor ihm standen. Das hat ihn mächtig gereizt."

Ein paar Wochen später werde ich zum Betriebsrat gerufen. Acht Personen sitzen im Besprechungsraum. "Sie wissen, worum es geht?" "Ja." "Wir möchten sie zu den Vorkommnissen anhören. Herr Eggert möchte ihnen kündigen" "Und was werden sie für mich tun können?" Betretenes Schweigen. "Herr Strauch, sie versauen sich doch sämtliche Chancen im Leben." "Nein. Aber das werden sie niemals verstehen."

"Soll ich noch mal mit Herrn Eggert reden?" "Nein, ich will dort nicht mehr weiter arbeiten, sein Sklave sein." "Lehrjahre sind nun einmal keine Herrenjahre." "Und deswegen dürfen bei ihm Azubis auch nicht rauchen, oder?" Mein Vater und seine Frau reden auf mich ein. Meine Zukunft, warum machen sie sich plötzlich Gedanken über meine Zukunft? In Kempten habe ich keine Zukunft.

Ende Oktober bekomme ich die fristlose Kündigung. Unzählige Spannungen in mir lösen sich, als ich das Firmengebäude das letzte mal verlasse. Frei!

Kreuzberger Nächte

Ein paar Tage später fahre ich zu Siggi nach Berlin. Völlig erschöpft komme ich in der Früh um sieben an. Ich warte bis halb neun, bis ich Siggi aufwecke. "He Keule!" "Hi Sidschi!" "Komm rein. Seit wann bist du hier." "Seit um sieben, aber ich wollte dich nicht so früh wecken. Ich bin die ganze Nacht gefahren und hundemüde." "Da ist eine Matratze zum Pennen."

Als ich aufwache blitzt es. Dann Lachen. Siggi hat ein Foto gemacht. "Sehr witzig!" "Los, steh auf, du fauler Sack. Abendbrot ist fertig. Toast!" Wir essen den Toast und quatschen über das Allgäu. "Ich werde nach Berlin ziehen." "Das haben schon viele gesagt."


Siggi zeigt mir das Berliner Nachtleben. Wir machen eine Kneipentour entlang der O-Straße in Kreuzberg. Siggi trinkt ein Bier nach dem anderen und ich trinke mit. Völlig am Ende komme ich am nächsten Morgen mit ihm zurück. Dann pennen wir den ganzen Tag und abends geht es wieder von vorn los. Zwischendurch will ich an die Mauer. Sie wird mich vor der Bundeswehr schützen. Nach einer Woche Nachtleben fahre ich zurück nach Kempten.

Bundeswehr

Es ist Samstag und ich will ausschlafen. Es klopft. Manne und Harry. "Ich will noch schlafen, kommt später wieder." Sie gehen.

Harry spricht seitdem kein Wort mehr mit mir. "Was ist mit Harry?" will ich von Manne wissen. "Er ist sauer auf dich, weil du letztens nicht aufgemacht hast." "Und deswegen redet er nicht mehr mit mir?" Manfred nickt. "Ich verstehe ihn auch nicht."

"Was ist mit dir, du bist so ruhig?" Manfred druckst herum. "Nun sag schon!" Er holt einen verknüllten weißen Zettel aus seiner Tasche. "Ich muß zur Bundeswehr." "Oh, scheiße." "Ich gehe da nicht hin." "Sie werden dich mit Feldjägern suchen. Du wirst mächtig Probleme bekommen." "Das ist mir egal."

Ein paar Tage später sitzen wir im Ritterkeller. Manfred sitzt vor einem Spielautomat und Peter redet auf ihn ein. "Du hättest heute um achtzehn Uhr in Würzburg sein müssen. Du machst dich strafbar. Kapierst du nicht? Du kannst dafür in den Knast kommen." Ich höre nicht mehr zu. Harry sitzt in der Ecke und raucht eine Zigarette. Unsere Blicke treffen sich. Aber er spricht nicht mit mir. Irgendwie tut es weh. "Eh, Steven, wenn ich dir das Benzin bezahle, fährst du Manne dann nach Würzburg?" Ich nicke nur. "Wann?" "Morgen früh, so daß er um sieben Uhr da ist." "Kann ich mitfahren?" Harry. "Na klar." Um eins macht der Ritterkeller zu. Manne, Harry und ich gehen zu mir. Wir unterhalten uns über die Bundeswehr. Manne ist ziemlich ruhig. Um halb vier fahren wir los. Die beiden schlafen. "Wir sind da!" rufe ich den beiden zu. Wir fahren auf einer weiten Ebene auf eine Kaserne zu. ,Mit Standlicht fahren’ steht auf einem Schild. Als wir am Kasernentor sind, kommt ein Amerikaner in Uniform auf uns zu. Umständlich versuche ich mit schlechten Englisch klarzumachen, wohin wir wollen. Er zeigt in eine andere Richtung. Ich fahre den langen Weg zurück und finde schließlich die richtige Kaserne. Es ist halb sieben. "Die werden mächtig sauer sein." Manne steigt schweigend aus. "He, Kopf hoch, so schlimm wird es schon nicht sein." Wir umarmen uns kurz und dann geht er zum Tor. Er sieht sich noch mal um. Winkt. Geht hinein. Redet mit einem Wachsoldaten und verschwindet dann auf dem Gelände. Mein Magen preßt sich zusammen. Es ist wie ein Abschied für immer.

Harry und ich steigen wieder ins Auto und fahren nach Würzburg. Die Straßen und Plätze sind leer. Es sieht aus, als ob hier pausenlos geputzt würde. "Was machen wir jetzt?" fragt mich Harry. "Gehen wir ein bißchen spazieren." Wir gehen durch den kalten Morgen und kehren ziemlich bald zum Auto zurück. Wir sind wieder auf der Autobahn Richtung Kempten. Endlich reden wir wieder miteinander. Es ist wie früher. Ich bin erleichtert.

Am Freitag Nachmittag ruft mich Manne an. Ich hole ihn vom Bahnhof ab und freue mich, ihn zu sehen. Er erzählt mir von seiner ersten Woche und lacht dabei. Durch seine Leck-mich-am-A***h-Art schafft er es dann auch noch tatsächlich, innerhalb kürzester Zeit wieder aus dem Laden hinaus zu fliegen.

Musterung

Am 10. März gehe ich zum Kreiswehrersatzamt. Musterung. Ich habe die ganze Nacht Kaffee getrunken und nicht geschlafen. Ein uniformierter Mann hinter dem Schreibtisch schreit herum. Ich zucke zusammen. "Sie habe ich nicht gemeint. Ihr Name bitte!" Ich sitze im Wartezimmer und zittere ein wenig. Dann geht es los. Becher Urin abgeben, Körpergröße und Gewicht feststellen. Wartezimmer. Der nächste Arzt zählt mit einer Höchstgeschwindigkeit sämtliche Krankheiten auf, die es zu geben scheint. Ab und zu versuche ich ja zu sagen, aber der Arzt hört es nicht. Wartezimmer. In der nächsten Runde soll ich Kniebeugen machen. Der Arzt hört meinen Herzschlag und die Lungen ab, mißt Blutdruck und faßt dann ohne Vorwarnung an meine Lenden. "Husten sie mal." Ich tue es und er nimmt seine Hände wieder aus meiner Hose heraus. "Drehen sie sich mal um und ziehen sie die Hose herunter." Er drückt mich nach vorn, betrachtet mein A****l**h und sagt dann: "Das war’s." Ich ziehe mir schnell die Hose hinauf und gehe zurück ins Wartezimmer. Im nächsten Zimmer sitzen drei Leute in blauen Uniformen. Hinter ihnen eine Deutschlandfahne und ein Bild von Weizsäcker. "So, Herr Strauch, hier ist ihr Musterungsbescheid. Sie sind kerngesund und haben nur leichte Einschränkungen. Wenn sie nicht bald eine neue Ausbildung anfangen, sollten sie sich überlegen, ob sie sich nicht freiwillig bei uns melden." Ich nicke. Bevor die mich kriegen, bin ich in Berlin.

Tschüs Kempten

Am Ende des Monats fahre ich mit Kai, dem jüngeren Bruder von Christian und Wolfgang, für zwei Wochen nach Berlin. Wir kommen abends an und fahren zu seinem Vater. "Was willst du denn hier?" fragt er wenig erfreut. "Wie lange bleibt ihr hier?" "Zwei Wochen" antworte ich schnell. "Dann nimmst du Kai aber wieder mit!" Ich erzähle ihm von meinen Plänen nach Berlin zu ziehen und er nickt die ganze Zeit nur. "Wenn du willst, kannst du dich bei mir anmelden" sagt die Frau, mit der Kais Vater zusammen lebt. "Danke, das wäre echt toll." Er sagt mir noch, daß ich zu ihm kommen soll, wenn ich einen Job suche und dann verschwinden Kai und ich wieder. Ganz schön komische Leute. Ich besuche Heidi. Sie ist eben nach Berlin gezogen und ich frage sie, ob ich bei ihr wohnen kann. Sie ist einverstanden. Obwohl wir uns gar nicht so gut kennen.

Als ich zurück in Kempten bin, habe ich die Kündigung meiner Wohnung zum 30.04.89 im Briefkasten. Ich habe die beiden letzten Mieten nicht bezahlt. Frau Wipper hat sich mächtig darüber aufgeregt, aber ich habe ihr nur gesagt, daß die Dusche seit Wochen nicht funktioniert. Jetzt funktioniert die Dusche zwar, aber bezahlt habe ich trotzdem nicht. Eine Vorladung zur Eignungs- und Verwendungsprüfung vom Kreiswehrersatzamt liegt noch in meinem Briefkasten. Am nächsten Vormittag rufe ich dort an und sage, daß ich im Mai vereist sein werde. "Wir schicken ihnen dann eine neue Karte." Bis die kommt, bin ich längst in Berlin, denke ich mir und bedanke mich freundlich.

Am 30.04. räume ich meine Wohnung aus, verschenke die meisten Sachen an Peter und packe den Rest in den Kofferraum und auf die Rücksitzbank meines Autos. Frau Wipper fragt pausenlos nach dem Schlüssel. "Um Mitternacht können sie ihn haben" sage ich kurz und ignoriere sie von nun an. Ich sehe in das leere Zimmer. Fast zwei Jahre habe ich hier gewohnt. Ich denke an den ersten Tag. Wie ich von der Burghalde hier her kam. Die erste Nacht in dieser fremden Umgebung. Es war ganz okay hier, aber es war nicht mein Zuhause.

Ich fahre zu Birgit und Mark und stelle meinen Krempel bei ihnen unter und schlafe auch dort. Peter will mit nach Berlin, hat aber erst ab dem 11. Mai Urlaub. Also warte ich. Mark und Birgit kenne ich aus dem Ritterkeller. Sie sind schon eine Ewigkeit zusammen und verhalten sich manchmal wie ein altes Ehepaar. Aber ganz nett. Wenn sie morgens durch die Wohnung hetzen, weil sie irgend etwas suchen, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Ja, lach du nur" grinst Birgit im Vorbeigehen. Ihr Freund Mark steht längst an der Türe und motzt die ganze Zeit herum. "Wo bleibst du denn ..." Dann stehe ich langsam auf, frühstücke und ziehe mich an.

Ich gehe zur Friedhofsverwaltung. "Ich möchte das Grab meiner Mutter auflösen. Ich ziehe weg von hier und habe niemand, der sich um das Grab kümmert." Der Beamte holt die Unterlagen. "Sie müssen den Grabstein entfernen. Sie können ihn auch sozial Schwachen überlassen, dann nehmen wir ihn vom Grab." Ich nicke nur und komme mir gemein vor. Ich muß nicht zum Grab meiner Mutter, um an sie zu denken.

Am 11. Mai 1989 fahre ich zu Peter. "Fertig?" rufe ich nach oben. "Ja, gleich." Peter kommt mit einer Tasche über den Schultern herunter. Wir steigen ein und fahren auf dem Stadtring über den Berliner Platz Richtung Autobahn. Auf dem Mittelstreifen ist ein Bär auf einem Sockel. Darunter ist eine Tafel angebracht: ,Berlin 650 km’ "Berlin ich komme" schreie ich hinaus und "Tschüs Kempten." Das gelbe Ortsschild mit dem roten Balken fliegt an mir vorbei. Tschüs Kempten.