10 Jahre
Ohne mich noch einmal umzudrehen gehe ich durch das große alte Holztor der Burghalde
und den schmalen, steilen Weg hinunter zur Straße. Unten muß ich nur über die Kreuzung
und in die gegenüberliegende Straße hinein. Nach ein paar Minuten stehe ich vor dem
Haus. Ich gehe durch das graue flache Holztor. Es duftet nach Backwaren, aber die
Bäckerei hat längst zu. Es ist still. Ich laufe die Treppe hoch, den Flur entlang,
vorbei am Treppenansatz zum nächsten Stockwerk und dann stehe ich vor der Türe. Die
Türe zu meiner neuen Wohnung.
Ich schließe auf. Heiße, abgestandene Luft drückt mir entgegen. Ich öffne das
Fenster und setze mich auf das Fensterbrett. Die Holzkiste mit meinen Sachen darin steht
mitten in dem kleinen Zimmer. Der Tisch. Der Schrank. Die Wände. Alles ist kahl und leer.
Ich fange an, meine Sachen auszuräumen. Den meisten Kram verstaue ich in dem Kasten unter
dem Bett. Mir wird heiß. Ich schwitze. Aber ich möchte alles weggeräumt haben.
Nach drei, vier Stunden bin ich fertig. Ich habe Durst, aber der Kühlschrank ist
leer. Ich gehe zur Tankstelle um die Ecke und hole mir eine Cola und etwas zum Essen. Auf
dem grünen Stuhl wippe ich leicht vor und zurück. Die untergehende Sonne strahlt auf den
Spiegel über dem Waschbecken und hüllt den Raum in glänzendes Licht. Ich blase den
Rauch meiner Zigarette in die Strahlen und sehe mich um. Hier wohne ich jetzt also. Besser
als im Heim auf jeden Fall. Ich stelle den kleinen Tischfernseher von Helmut auf den
Kühlschrank und suche nach einem Sender. Ein Film läuft, aber ich sehe nicht richtig zu.
Bilder tauchen auf. Der Abschied von Oswalda. Der Geburtstagskuchen zu meinem
siebzehnten, den ich selbst backe. Abschlußfahrt nach Bonn. Helmut im Bungalow in
Italien. Weinender Florian am Tisch. Barbara beim Spielen mit den Kleinen. Sieglinde beim
Abspülen. Der Heizungskeller. Hermann und Rechnungswesen. Helmut. Edeltraud überrascht
mich beim Wichsen. Höfle. Helmut. Radtour mit Rupert. Weihnachten bei meinem Vater. Mit
Fred im Waschraum. Nikolaus. Martin neben mir mit nackten Oberkörper. Der Heizungskeller.
Jochen und Mathe. Helmut. Trainingsfleißigster. Edeltraud bringt mich ins Schlafzimmer.
Helmut. Dario und ich auf dem Sofa. Walter. Dieter liegt weinend im Bett. Walter.
Edeltraud auf dem Liegestuhl. Ohrfeige von Schwester Concilia. Ohrfeige von Schwester
Anni. Der braune Matsch. Andreas und ich vor Mutter Oberin. Neonröhren und bunter
Teppich. Nuß-Nougat-Brot. Dunkelheit. Ein kleiner Junge vor der großen braunen Türe.
Das, das bin ich. Ja. Ich erkenne ihn ..., mich. Ja, das bin ich vor zehn Jahren! Ein
Schauer überkommt mich. Ich schrecke auf und blicke mich um. Der Fernseher läuft und
murmelt unverständliches Zeug. Ich schalte ihn aus und lege mich ins Bett. Das erste mal
benutze ich das Bettzeug meiner Mutter. Heute sind zehn Jahre zu Ende gegangen.
Ich wache früh auf und habe kaum geschlafen. Ich bin noch müde, aber ich stehe
trotzdem auf. Es ist ein warmer Sommertag und ich ziehe mich an und gehe zum Friedhof. Vor
dem Grab meiner Mutter bleibe ich stehen. Ich lese immer wieder die Zahlen 23.9.1931 -
3.1.1977 bis ich sie nicht mehr erkennen kann. Tränen laufen herunter. Wenige andere
Menschen sind noch hier. Sie legen Blumen auf die Gräber. Ich nicht. Ich gehe zurück in
meine neue Wohnung und schlafe noch ein bißchen.
Varigotti
"Wir suchen noch einen Dritten, der mit nach Italien fährt!" Birgit sieht
mich fragend an. "Was glaubst du, was die Schwestern denken, wenn eine Erzieherin aus
dem Heim mit einem Ehemaligen nach Italien fährt?" "Laß sie doch denken,
was sie wollen. Du bist draußen und was ich in meiner Freizeit mache, geht die gar nichts
an." Also gehe ich ein paar Tage später früh am Morgen zu ihr durch die dunklen
Straßen. Ihr alter VW Golf steht schon vor ihrer Türe. Ich klingle und Birgit öffnet
mir. "Morgen, willst du noch nen Kaffee?" "Ja, gerne! Ich bin noch
ganz schön müde." "Das ist Manuela." Manuela sitzt am Küchentisch und
gähnt mich an. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Auto und fahren los. Langsam wird
es heller. Birgit fährt und ich suche nach dem richtigen Weg. Manuela schläft auf der
Rückbank. Ich sehe Birgit von der Seite beim Fahren zu. Birgit ist richtig dick. Neben
ihr komme sogar ich mir schlank vor. Ihr scheint das völlig egal zu sein. Sie ist immer
lustig. Irgendwie beneide ich sie darum.
Gegen Mittag kommen wir oben auf dem Paß an. "Ich brauche eine Pause" sagt
Birgit etwas atemlos "die Lenkerei macht mich ganz verrückt." Sie fährt auf
einen Parkplatz und wir steigen aus. Mir tut alles weh. Kalt ist es hier oben. Wir trinken
Kaffee und essen ein paar belegte Brötchen und fahren nach ein paar Minuten weiter. Mit
der Zeit werden die hohen Berge weniger. Grüne Hügel strecken sich flacher werdend vor
uns hin. Es ist wie ein Traum. "Links oder rechts?" "Was?" "Links
oder rechts! Schnell! Links oder rechts!" Birgit lacht und fährt einfach auf die
Wiese am Straßenrand. Ich ziehe meine Jogginghose und mein T-Shirt aus. Beim Fahren blies
mir der Wind warm ins Gesicht. Aber hier steht die Luft. Selbst die Boxershorts kleben an
meinen Beinen. "Machen wir eine Pause?" "Ah, du lebst noch!" Manuela
steigt verschlafen aus dem Auto. "Wo sind wir?" Ich zeige ihr auf der Landkarte
wo wir sind. "Vielleicht noch zwei oder drei Stunden, dann sind wir am Meer!"
Birgit liegt ein paar Meter entfernt auf einer Decke und schläft. "Die ist ganz
schön fertig." "Ja doof, daß ich noch keinen Führerschein habe."
"Ich würde ganz gerne fahren, aber sie läßt mich ja nicht." "Du Spinner,
du bist ja noch nicht einmal volljährig!" "Na und? Ein Jahr noch." Ich
lege mich neben Birgit auf die Decke und döse ein bißchen vor mich hin. Ich schaue in
die Baumspitzen. Es ist total ruhig hier. Sogar die Vögel sind still. Der blaue Himmel,
die hellgrünen kleinen Blätter, die Sonne, die durch sie hindurch blinzelt. Warmer
sanfter Wind streift über meine nackte Haut. Es ist, als ob mich jemand streichelt.
"Los, weiter, mir ist langweilig." Manuela rüttelt Birgit wach und geht zum
Auto zurück. "Die ist ja witzig, schläft die ganze Zeit ..." Birgit schüttelt
etwas genervt den Kopf und zieht dann ohne Vorwarnung die Decke weg. "Aufstehen du
Schlafmütze!" lacht sie und ich rolle ins Gras. Wir haben die richtige Straße
gefunden und fahren durch eine hügelige Landschaft dem Meer entgegen. "Da! Da ist
es!" Birgit zeigt auf das Meer und fängt an zu singen. Bei ihrem Gesang muß ich
lachen und Birgit singt noch lauter.
"Da ist ein Parkplatz ... Da war ein Parkplatz." "Sag das gefälligst
früher." Birgit kneift mir ins Bein. "Wenn du so langsam bist. Bremsen, das
mittlere Pedal, du weißt schon." "Da!" Birgit bremst und ich rutsche fast
vom Sitz. "Ätsch, das kommt davon, wenn man sich nicht anschnallt!" Wir steigen
aus und gehen ans Wasser. Ich stehe bis zu den Schenkeln im Wasser. Es ist kühl.
"Kommt schon!" Ich würde am liebsten hinein springen, die Abkühlung täte mir
gut, den klebrigen Schweiß abwaschen, aber Birgit ruft mich. "Wir müssen noch einen
Platz für unsere Zelte finden, bevor es dunkel ist." Wir fahren am Ufer entlang und
halten Ausschau nach geeigneten Plätzen. "Ich habe keine Lust mehr zum Fahren."
"Wir biegen einfach in die nächste Seitenstraße ab und dann werden wir schon etwas
finden!" Ich versuche Birgit aufzumuntern, sie gähnt pausenlos. Birgit biegt in eine
schmale Straße hinein, die sich bald darauf zu den Hügeln hin abhebt. Als die Straße
hinter dem ersten Hügel verschwinden möchte, hält Birgit an. "Da unten ist doch
Platz!" Ich nicke Birgit zu und kurz darauf halten wir an der Stelle, die wir eben
von oben auserkoren haben.

Birgit stellt das Auto in eine Bucht an der Kurve. "Wir gucken erst einmal."
Manuela und ich nicken. Direkt an der Straße ist eine 7 oder 8 Meter hohe Mauer. An der
Kurve ist eine Art Einstieg. Schmale Stufen führen nach oben. Die Mauer ist oben etwa ein
Meter breit. Dahinter, etwas abgesetzt, ist ein 4, 5 Meter breiter Flur mit hohem
verdorrtem Gras und einzelnen Bäumen. Die nächste Mauer ist nur aus losen Steinen
zusammen gesetzt. Auf der nächsten Etage stehen dann schon mehrere Bäume. "Das muß
ein Weinberg sein." "Ja, sieht so aus." "Was haltet ihr von dem Platz
hier. Unsere zwei Zelte passen hier doch ideal hin und auf der breiten Mauer können wir
kochen." Wir gehen zurück zum Auto und holen unsere Sachen. "Ich fahre das Auto
noch weiter von der Straße weg. Nicht, daß jemand hinein fährt. Hier hast du den
Zweitschlüssel, falls ich den verliere. Aber nicht fahren, hörst du." "Ja,
ja" antworte ich nur kurz und steige dann wieder zu unserer Plattform hoch. Als die
beiden Zelte endlich aufgebaut sind, ist es dunkel. Birgit und Manuela machen das
Abendessen, während ich unseren Vorrat in mein Zelt verstaue. "Hier."
"Danke." Ich nehme ein belegtes Brot, setze mich auf die Mauer und lasse meine
Beine herunter hängen. "Flieg bloß nicht herunter!" Birgit sieht mich
erschreckt an. "Nein, nein. Keine Panik." Wir sitzen noch eine Weile da und
schauen aufs Meer. "Sieh mal, die vielen kleinen Lichter auf dem Meer." Die
kleinen Lichter wackeln über das Meer und das Wasser glitzert. Ich putze mir die Zähne
und steige verklebt in mein Zelt. "Gute Nacht."
"Frühstück ist fertig!" Ich öffne mein Zelt und blinzle in die
Morgensonne. "Ist das nicht herrlich hier!" Birgit strahlt mich an. Ich grinse
bei ihrem Gesichtsausdruck und steige aus meinem Schlafsack. "Guten Morgen. Na, gut
geschlafen?" "Ja, und ihr?" "Es war ein bißchen hart, trotz meinem
Speck, aber ganz okay." Birgit lacht. "Ich bin das Schlafen im Zelt auch nicht
gewöhnt, aber es wird schon gehen." Manuela sieht nicht gerade frisch aus. Nach dem
Frühstück erkunden wir die nähere Umgebung. Wir steigen unseren Hügel hinauf und
finden zwei riesige runde Wasserbehälter. "Hier ist die Zuleitung." Ich drehe
den Wasserhahn auf und nach wenigen Sekunden kommt frisches klares Wasser heraus.
"Praktisch, da können wir unsere Kanister auffüllen." "Ja, und uns abends
das Salz vom Meerwasser abwaschen." Manuela steht stumm daneben während Birgit und
ich unseren Alltag organisieren. Wir gehen zurück zu den Zelten und räumen unsere Sachen
weg.

Wir gehen auf dem heißen Sand und suchen uns einen ruhigen Platz. "Kommt ihr
zwei gleich mit?" "Meine Güte, bei euch Jungs geht das immer schnell."
Birgit zwängt sich aus ihrem Kleid. "Ich bin gleich soweit!" "Was ist mit
dir?" Manuela liegt mit T-Shirt auf ihrer Decke und liest. "Ach, geht schon mal.
Ich bade später." "Okay." Und Birgit rennt lachend in die Fluten. Ich bin
nicht so mutig. Schritt für Schritt wate ich dem kühlen Naß entgegen. "Los du
Feigling!" Schon werde ich von Birgit aufs empfindlichste naßgespritzt. Ich tauche
ein. Mein Herz schlägt schneller. Am Meeresboden stoße ich mich ab und tauche wieder
auf. Ich lasse mich nach hinten fallen und spritze jetzt zurück. Wir albern eine Zeitlang
herum und laufen dann ziemlich außer Puste zu unseren Decken zurück. Birgit und ich
reden den ganzen Tag. Über das Heim. Da geht uns der Gesprächsstoff nie aus. Manuela
sitzt oder liegt die ganze Zeit meist stumm daneben und liest. "Was ist mir
ihr?" frage ich Birgit beim Eis holen. "Ich weiß auch nicht was sie hat."
Birgit hört sich resigniert an. "Hey, verführe mich bloß nicht zum Rauchen. Ich
habe es mir gerade abgewöhnt!" Ich stecke mir eine Kippe an und blase den Rauch in
ihre Richtung. "Du bist gemein. Oh, wie das durftet." "Du kriegst aber
keine." "Noch nicht mal erwachsen und schon so frech." Wir schauen uns in
die Augen und müssen grinsen.
"Heute abend gibt es Spaghetti, einverstanden?" "Au ja."
"Gute Idee." Wir sind zurück auf unserer Plattform. Wir gehen zu den riesigen
Wasserbehältern und füllen die Kanister mit frischem Wasser. "So, umdrehen und
wehe, wenn du schaust!" Ich steige in einen der beiden Behälter und schwimme ein
paar Runden. Das Wasser ist klar und kühl. Hier drin sind die Geräusche von draußen nur
ganz dumpf wahrzunehmen. "Du kannst wieder heraus kommen" tönt es von weitem.
Ich steige heraus und "Lächeln!" knips und vor lauter Lachen plumpse ich in das
Riesenwaschbecken zurück.
Mit einem Campingkocher kochen wir zuerst die Nudeln und dann die Soße. Es dauert
nicht lange und wir drei sitzen auf dem Mauervorsprung und sehen dem Sonnenuntergang mit
einem gesättigten Grinsen zu. Ich zünde mir eine Zigarette an und dann kann sich Birgit
nicht mehr beherrschen. "Gib sie her!" Birgit stürmt auf mich zu. Ich versuche
zu fliehen, aber gegen ihre gewaltige Masse habe ich keine Chance. Ich ergebe mich und
biete ihr untertänigst eine Zigarette an. Sie zieht daran und ... "Oh, tut das
gut." Dann fangen wir an zu lachen und können nicht mehr aufhören. Als ich fast
aufgehört habe zu lachen, kichert Birgit von vorn los. Ich kann mich nicht mehr halten
und lache weiter bis mir der Bauch weh tut.

"Ih, guck mal." Birgit zeigt auf den Topf mit den Spaghetti von gestern
abend. "Wir hätten ihn wohl doch sauber machen sollen." Ich muß schon wieder
kichern. "Mmh, lecker. Spaghetti mit Ameisenzulage." Birgit lacht auch und
verzieht ihr Gesicht. Wir gehen jeden Tag zum Baden. Manchmal ist es so heiß, daß ich
mich mit meinem Handtuch zudecke.
Nach eineinhalb Wochen sieht mich Birgit ernst an. "Morgen fahren wir zurück.
Ich kann nicht mehr. Manuela ist nur muffelig. Das macht mich ganz krank." Ich nicke.
Also bauen wir am nächsten Morgen unsere Zelte ab und fahren zurück nach Kempten.
Viola
Viola ist auf Besuch. "Du warst in Italien und hast mir nicht mal eine Karte
geschrieben." "Ich habe niemanden eine Karte geschrieben." "Aber du
bist doch mein Freund." "Ja." Bisher haben wir uns hin und wieder geküßt.
Manchmal streichle ich dabei ihren Busen. Sie legt ihre Arme um meinen Hals und küßt
mich. Sie drückt mich nach hinten auf das Bett und bewegt sich hin und her. Wir knutschen
herum. Irgendwann liege ich oben und bewege meinen Unterkörper vor und zurück. Sie
stöhnt leise. Mir fällt die Nacht mit Petra ein. Aber dieses mal ist es anders. Ich habe
einen Steifen und fühle mich nicht lächerlich. Nur verdammt unsicher. Wir pressen unsere
Unterleiber zusammen. Viola stöhnt. Ich fasse ihr unter die Bluse. Nach ein paar Minuten
kommt es mir. Ich bin außer Atem und schaue sie an. Sie befreit sich. "Ich muß mich
erst einmal wieder richtig anziehen." Und geht auf die Toilette. Meine Hose ist naß.
Ich ziehe sie schnell aus und wische mich mit einem Handtuch trocken. Als Viola zurück
kommt, sitze ich mit frischer Hose am Tisch und rauche eine Zigarette. "Ich muß
jetzt gehen." "Ja, tschüs." Wir küssen uns kurz. Seitdem ist Viola
verschwunden.
Der Ernst des Lebens
Ich stehe am ersten September in der Eingangshalle der Spedition Lebert und warte. Ein
Junge und ein Mädchen kommen dazu. "Fängst du auch heute neu an?" Ich nicke.
Wir stellen uns vor und reden über unsere Erwartungen. Ein alter Herr kommt die Treppe
herunter. "Sie sind sicher Fräulein Wendel." Karin nickt. "Sie beginnen
ihre Ausbildung in der Buchhaltung. Und sie Herr Kind kommen in die Rechnungsabteilung,
sie können gleich mitkommen. Sie werden gleich vom Lagermeister abgeholt." Und weg
sind sie. Nach ein paar Minuten kommt ein Italiener. "Ah, du bist Stefan, äh? Ich
bin Mario. Komm mit, ich zeige dir den Umkleideschrank." Wir gehen in den Keller und
er zeigt mir meinen Schrank. "Du solltest dir ein Schloß besorgen. Laß dir Zeit
beim Umziehen und komm dann in die Halle raus." Ich ziehe mich um. Alles ist noch neu
hier. Ein großer Duschraum. Flache Bänke. Das erinnert mich an den Sport in der Schule.
Ich gehe in die Halle und suche Mario. Er zeigt mir die Halle, die einzelnen Plätze.
"Hier ist nur Fernverkehr. 10 ist Berlin, 20 Hamburg, 30 Hannover und so weiter.
Steht alles dran." Ich sehe mich um. Die Halle ist riesig. Am Vormittag machen wir
immer erst einmal die Halle sauber." Er drückt mir einen Besen in die Hand und ich
kehre den ganzen Vormittag die Halle. "Eh, Stefano, Mittagpause!" Ich gehe in
die Kantine und esse. Karin und Erwin sehen mich und setzen sich zu mir. Wir unterhalten
uns über den ersten Vormittag. Den anderen ging es nicht viel besser. Ablage machen.
Ordner auf. Ordner zu. Nach der Pause sitze ich in einem kleinen Häuschen, in dem die
Arbeiter warten, bis sie von Mario Arbeit kriegen. Ein kleiner Mann kommt um die Ecke und
plötzlich sitze ich allein hier drin. "Hast du nichts zu tun?" Der kleine Mann
spricht sehr laut, eigentlich schreit er. "Ich warte auf Mario." sage ich leise.
"Du kannst doch nicht warten, bis dir eine Lagermeister Arbeit gibt. Du mußt dir
schon selber eine suchen." "Was denn?" "Wurde heute schon die Halle
gekehrt?" "Ja!" "Und die Rampe?" "Was?" "Komm mal
mit." Er rennt vor mir her, schnappt sich einen Besen und geht mit mir zu den
LKW-Rampen. "Hier, rund um die ganze Halle muß alles gekehrt sein." Ich nehme
den Besen und springe die Rampe hinunter. Als ich Feierabend habe, bin ich fertig. Bei der
Stempeluhr treffe ich meinen Vater. "Na wie war dein erster Arbeitstag."
"Ging so. Ich habe den ganzen Tag nur gekehrt." "Na, das geht vorbei."
Ich sitze im Bus und fahre zu meiner Wohnung. Meine Hände tun weh.
So vergeht die erste Woche. Am Vormittag kehre ich die Halle, am Nachmittag die Rampe.
Am Ende der Halle mache ich immer Pause. Ich setze mich zwischen zwei Lkws und rauche eine
Zigarette. Hier sieht mich keiner. Meine Hände haben Blasen.
Glück und Unglück
"Los Stefan, den kriegst du noch. Zeig was du kannst!" Mein Trainer schreit
mir am Spielfeldrand zu und läuft mit. Ein Stürmer der gegnerischen Mannschaft rennt an
der Linie mit dem Ball Richtung unser Tor. Ich renne neben ihm her. Er stößt den Ball
ein paar Meter vor und will an mir vorbei. Aber ich bin schneller und schiebe den Ball
beim Rutschen über die Seitenlinie. Kurz darauf spüre ich einen Schlag auf meinen
rechten Knöchel. Ich ziehe meine Beine an und kann vor Schmerz kaum atmen. "Los,
Stefan, aufstehen!" Aber ich kann nicht. Der Schiedsrichter pfeift und der Trainer
kommt zu mir gerannt. "Was ist?" "Mein Knöchel" presse ich heraus. Er
zieht mich hoch und ich humpele von ihm gestützt zu einer Bank. "Laß mal
sehen." Heinz öffnet meinen Fußballschuh und mein Knöchel schwillt apfelgroß an.
Mein Trainer bringt mich zu den Umkleidekabinen. "Fährst du ihn gleich ins
Krankenhaus?" Gernot, unser Co-Trainer hilft mir ins Auto. Mein Bein wird geröntgt
und anschließend in Gips gelegt. "Du hast Glück gehabt, es ist nur eine
Bänderüberdehnung, kein -riß, und nichts ist gebrochen. Aber ein, zwei Wochen muß der
Gips schon dran bleiben." Scheiße. Gernot fährt mit mir zurück nach Hegge zu
seinem Haus. "Ausgerechnet heute, wo wir unsere Fußballerfeier haben."
"Ich habe gar keine Lust mehr darauf." "Ach komm, das geht schon." Wir
sitzen in seinem Haus und feiern. Aber nach feiern ist mir nicht zumute. "Ich will
gehen" sage ich nach einer Weile zu Gernot. "Ich fahre dich heim."
"Nein, ich schlafe heute nacht bei meinem Onkel." Hubert und Thea schauen mich
bemitleidend an. Mit Gernots Krücken bewege ich mich in ihr Gästezimmer und lege mich
hin. "Willst du noch was trinken?" Ich nicke nur und Thea macht mir noch einen
heißen Kakao. Während ich ihn langsam trinke sitzt sie neben mir auf dem Bett und fährt
mir hin und wieder durch meine Haare. Meine Augen tränen. Aber es ist nicht nur der
Schmerz in meinem Bein.
Am nächsten Morgen rufe ich meinen Vater an und sage ihm, er solle mich am Montag bei
Herrn Schuster krankmelden. Irgendwie hat der Gips auch etwas Gutes.
Nach knapp zwei Wochen komme ich wieder zum Arbeiten. Nehme einen Besen und die
Mülltonne und kehre darauf los. Bis Herr Schuster auf mich zu stürmt. "Wegen einem
Gipsbein hättest du ruhig trotzdem zum Arbeiten kommen können. Wir hätten für dich
schon etwas im Büro gefunden." So ein A***h, denke ich mir und kehre weiter.
Mir macht das Arbeiten in der Lagerabteilung keinen Spaß. Als ich zwei Wochen später
wieder wegen einem Fußballspiel krank bin, stecken sie mich danach in die Buchhaltung.
Also kontiere ich jetzt Rechnungen. Das heißt, ich stemple rote und schwarze Zahlen auf
Rechnungen. Dann schreibe ich Überweisungen und vor Feierabend lege ich alles in
irgendwelche Ordner ab. Das macht zwar auch keinen Spaß, aber die Leute sind netter.
Harry
Es klingelt. Zwei mal. Das ist für mich. Ich schalte den Fernseher aus und gehe nach
unten. Peter und Manfred schauen ober durch die Stangen herein. "He hallo."
"Hi, was verschafft mir die Ehre? Kommt rein." Wir gehen nach oben. Die beiden
haben Bier mitgebracht. Ich trinke auch eins, obwohl es mir nicht besonders schmeckt.
"Kommst du mit ins Jugendhaus, heute ist Discoabend und wir legen auf. Die zwei haben
schon im Heim Massen an Platten gesammelt. Wir gehen durch den Hofgarten zum Jugendhaus.
In der Teestube setzen wir uns in ein altes Sofa und trinken Bier und rauchen Zigaretten.
Komische Leute hier. Von Jung bis Alt und alle recht bunt. Auch Harry. "He Manne, was
geht ab?" Manfred und Harry unterhalten sich. Harry ist ein Punk. Bunte Haare und
alte zerfetzte Klamotten. Ich sehe ihn an und er gefällt mir. Ist es sein Aussehen? Er
ist bildhübsch. Seine Haut ist sonnengebräunt, er hat dunkle Augen und eigentlich auch
dunkle Haare. Oder ist es seine Art, nichts richtig ernst zu nehmen? Vielleicht beides.
Peter und Manfred legen Platten auf und Harry tanzt. Naja, er springt mehr wie ein
Indianer um ein Lagerfeuer. Ich sehe ihm zu. "Eh, Steven, sitz hier nicht so faul
herum!" Neben mir pflanzt sich Siggi, der ältere Bruder von Peter und Manfred.
"Hi, Siggi. Was machst du denn hier?" "Ich komme gerade von Ulm. Scheiß
Bundeswehr. Fahren wir heute noch ins Melo?" "Ich bin ziemlich müde."
"Ach, schlafen kannst du noch genug, wenn du tot bist!" Um elf macht das
Jugendhaus zu. Zu fünft fahren wir zum Ritterkeller, wie meistens nach dem Jugendhaus.
Wir gehen hinein und der muffige Geruch schlägt mir entgegen. Der Ritterkeller ist ein
altes rundes Kellergewölbe, das in den Berg der Burghalde gebaut wurde. Wir unterhalten
uns und spielen Billard. Um halb eins fahren wir dann nach Neugablonz ins Melodrom.
Tagsüber ist das Melo ein Kino. Wir sitzen in einer Reihe und sehen den anderen beim
Tanzen zu. Das Publikum besteht zur Hälfte aus Wavern, die anderen sind Punks oder
Alternative. Oder Leute wie ich. Mit Turnschuhen, Jeans und T-Shirt. "Eh, komm
tanzen, Alter." Siggi geht zur Tanzfläche und legt mit einem Pogo los. Temple of
Love von Sisters of Mercy. Ich gehe hinterher und tanze auch. ,Life is short and love is
always over in the morning ... Beim Tanzen vergesse ich die Welt um mich herum. Die
Lichter blitzen durch mich, die Bässe hämmern in meinem Körper. Nach einer halben
Stunde bin ich völlig fertig. Naßgeschwitzt gehe ich aufs Klo und halte meinen Kopf
unter kaltes Wasser. Am Tresen kaufe ich mir ein Bier und gehe zurück in die Halle.
Irgendwo setze ich mich in einen Kinositz und lasse die Musik auf mich herunterprasseln.
Harry sitzt plötzlich neben mir. Wir unterhalten uns, als ob wir uns schon ewig kennen
würden. Um vier Uhr liege ich in meinem Bett und hole mir einen runter. Harry.
"Du siehst noch ganz schön müde aus, bist wohl gestern spät ins Bett
gekommen?" Ich sitze am Küchentisch bei meinem Vater und seiner Frau. Sie wäscht
jetzt meine Wäsche. Aber immer nur eine Hose. Sie meinte, ich könne doch nicht jeden Tag
eine frische Hose anziehen. Also bringe ich ihr immer nur eine Hose, ein paar wenige
T-Shirts und die Unterwäsche. Den Rest bringe ich zur Wäscherei. Doof, daß ich keine
Waschmaschine habe, aber in den kleinen Zimmer hätte sie auch keinen Platz. "Ich
habe mit dem Führerschein angefangen." "Was, jetzt schon?" "Ja klar.
Damit ich ihn habe, wenn ich achtzehn bin." "Und dann gleich ein Auto,
oder?" "Ja, man kommt hier ja sonst nicht weg." "Und wer soll das
bezahlen?" "Keine Ahnung. Muß ja nicht teuer sein. Irgend eine alte
Schüssel." "Wie war euer Spiel heute?" "Zwei zu eins verloren."
Mein Vater lacht. "Ich bin jetzt Stürmer. Weil ich so schnell rennen kann."
Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch. Wir essen.
Es klingelt. Zwei mal. Ich gehe hinunter und sehe ... Helmut. "Hallo
Stefan." Scheiße, er hat mich schon gesehen. "Von dir hört man ja überhaupt
nichts mehr." "Naja, ich arbeite die ganze Woche." "Ich gehe heute ins
Grill. Kommst du mit? Dann können wir ein bißchen reden." Reden? "Andreas ist
auch jeden Samstag im Grill. Er hat auch schon nach dir gefragt." Mir ist langweilig.
Also gehe ich mit Helmut in die Tanzschule Grill. Viele Jugendliche stehen vor der Türe.
Wir gehen rein und setzen uns an die Bar. "Willst du auch ein Bier?" Ich nicke.
Wir reden. Das heißt, Helmut redet, ich höre zu, nicke ab und zu oder lache manchmal.
Manchmal bringt er mich einfach zum lachen. Ich rauche von seinen Zigaretten. "Nimm
dir ruhig!" Andreas kommt und setzt sich zu uns. Er ist hier so eine Art Hausmeister.
Nebenher Geld verdienen. Er ist arbeitslos. "Du mußt auch noch einen Tanzkurs
machen" sagt Andreas zu mir. "Oh nein. Ganz bestimmt nicht." Ich hasse
diese Standardtänze. Die meisten Jugendlichen zeigen hier ihr Können und ich muß immer
wieder grinsen. "Wir brauchen für morgen noch einen Babysitter, hast du Zeit?"
"Ja, warum nicht." "Du kannst vorher noch bei uns mit zu Abend essen, wenn
du willst." Ich nicke. "So um sieben?" "Okay."
Gegen halb sieben klingle ich bei Helmut an der Türe. Auf der Rückseite des Hauses
sehe ich das Heim. Es sieht kleiner aus als früher. Seine Frau öffnet. "Toll, daß
du Zeit hast. Komm rein. Das Essen ist gleich fertig." Ich betrete die Wohnung und
gehe ins Wohnzimmer. Helmut sitzt vor dem Fernseher. "Hier sind die Videos. Wenn du
willst, kannst du auch die hier sehen." Er zeigt mir eine paar Videokassetten. Nackte
Frauen und Männer beim S**. "Wenn du einen Gespritzten willst, hier hängt die
Asbachflasche, Cola ist im Kühlschrank. Normalerweise schläft Sandra durch. Es ist nur
für den Notfall, daß du uns anrufen kannst." Helmut geht in die Küche. "Wie
lange dauert es noch?" "Noch etwa eine halbe Stunde." "Hast du schon
die neue Halle vom Heim gesehen?" "Was für eine?" "Komm mit, ich
zeige sie dir!" Wir gehen in den Keller und kommen in eine Halle. Er schließt die
Tür hinter sich ab und schließt die nächste Türe auf. Wir kommen in eine weitere
Halle. "Hier sind jetzt alle Maschinen, die ich für den Hof brauche, Rasenmäher,
Traktor, den Heuauflader. Es war ein harter Kampf, aber letztendlich hat die Stadt es dann
doch eingesehen." Ich gehe durch die vielen Maschinen und will wieder zurück.
"Tun was nochn bißchen?" Ich erstarre. "Deine Frau wartet mit
dem Essen." "Ach komm, nur ganz kurz." Er faßt mir in die Hose und mein
S*****z wird wieder steif. Ich kann mich nicht bewegen. Er nimmt meine Hand und führt sie
zu seinem S*****z. Mir gefallen doch Jungs. Warum ... ich höre auf nachzudenken.
Mechanisch reibe ich an ihm. Er stöhnt kurz auf und ich ziehe meine Hand zurück. Ich
spüre ein kurzes Zucken zwischen meinen Beinen und ziehe meine Hose hoch. Zitternd gehe
ich in seine Wohnung zurück. Angi hat inzwischen den Tisch gedeckt und Sandra ins Bett
gebracht. Wir essen und gleich darauf gehen Helmut und Angi los. Ich schalte den Fernseher
ein und sehe mir ,Wir Kinder vom Bahnhof Zoo an: Christiane sitzt in der Küche. Von
neben an kommt lautes Stöhnen. Sie öffnet die Türe. Detlef liegt bei einem Mann im Bett
und wird von ihm gebumst. Es ist erregend und abstoßend zugleich. Ich nehme etwas von der
Asbachflasche und spule den Film ein Stück zurück. Ich sehe mir die gleiche Szene noch
ein paar mal an. Ich habe einen Steifen und hole mir einen runter. Dann schalte ich den
Fernseher aus und rauche ein paar Zigaretten. Mir ist schlecht. Als Helmut und Angi wieder
kommen, gehe ich in meine Wohnung zurück.
KE-AL 6
"Und denke immer daran: Fünfzig sind erlaubt!" Mein Fahrlehrer droht mir
lachend mit dem Zeigefinger. Wir fahren zum Eisstadion. Auf dem fast leeren Parkplatz
parke ich rückwärts ein und fahre leicht gegen einen Laternenpfahl. "Warum sagst du
denn nichts?" "Wieso? Jetzt weißt du wenigstens wo das Auto aufhört." Der
Prüfer steigt hinten ein. "So, Herr Strauch. Die theoretische Prüfung haben sie ja
bestanden. Nun zeigen sie mir doch bitte, ob sie auch fahren können." Mit zitternden
Knien fahre ich los. Auf der Einfallstraße fahre ich genau fünfzig. Neben mir rauschen
Autos vorbei. Fünfzig, Stefan! Ich schaue immer wieder auf die Tachoanzeige. "Da
vorn dann bitte rechts." Ich sehe artig in die Spiegel, setze den Blinker, drehe mich
um und achte auf Radfahrer. Zum Glück kam keiner. Ich hätte ihn wohl trotzdem nicht
gesehen. "Immer gerade aus, so lange ich nichts sage, bitte." Ich fahre in der
Innenstadt von Ampel zu Ampel. Nur den Motor nicht abwürgen. "Da vorn dann bitte
rechts ... und die nächste bitte links ... hinter dem roten Auto parken sie dann bitte
rückwärts ein. Ich setze den rechten Blinker und bleibe neben dem roten Auto stehen. Ich
schaue nach hinten und rolle langsam Richtung Straßenrand. Mein Fahrlehrer dreht mit
seinem Zeigefinger mit. Als er die Richtung ändert, schlage ich das Lenkrad in die andere
Richtung. "Und, stehen sie richtig." Ich bin etwas irritiert und sage einfach
"Ja." "Gut, dann fahren sie jetzt bitte weiter." Ich fahre weiter und
fühle mich jetzt ein bißchen sicherer. "Die nächste bitte links." Ich blinke
und sehe in die Spiegel und ordne mich in der Mitte der Fahrbahn ein. "Wo geht es
denn zurück zum Hauptbahnhof." "Da müßten wir jetzt rechts abbiegen"
erklärt ihm mein Fahrlehrer. "Dann fahren sie jetzt bitte zurück zum
Hauptbahnhof." "Ich habe mich schon links eingeordnet!" Darauf falle ich
nicht herein. "Das geht schon in Ordnung. Fahren sie bitte hier rechts. Ich werde
langsamer und sehe meinen Fahrlehrer an. "Ist schon okay, Stefan. Das zählt nicht
als Fehler. Ehrenwort." Ich glaube meinem Fahrlehrer und biege rechts ab.
Langsam rolle ich auf den Seitenstreifen, stelle den Motor ab, ziehe die Handbremse an
und löse den Gurt. Ich schaue zum Prüfer. "Herzlichen Glückwunsch. Sie haben
bestanden. Den Führerschein bekommen sie aber erst, wenn sie achtzehn geworden
sind." Der Prüfer steigt aus und mir fällt ein Stein von Herzen. "Ich habe
bestanden!" rufe ich meinem Fahrlehrer zu. "Was anderes habe ich von dir auch
nicht erwartet. Du kannst schließlich Auto fahren. Meine Azubikollegin Karin steht mit
einem verweinten Gesicht auf dem Gehweg. "Nicht bestanden?" Sie schüttelt den
Kopf. "Warum?" "Ich bin über einen Zebrastreifen gefahren, als auf der
anderen Seite schon Leute darauf waren." "Scheiße." "Ja,
Scheiße."
An meinem achtzehnten Geburtstag fahre ich nach dem Arbeiten gleich zur
Zulassungsstelle. Meinen Führerschein abholen. "Herzlichen Glückwunsch, das ist
sicherlich ein schönes Geschenk zu ihrem Geburtstag." Mit einem Lächeln gibt mir
die Frau hinter dem Schalter meinen Führerschein. "Hier müssen sie noch
unterschreiben." Anschließend gehe ich zu Angelika. "Guck mal, was ich hier
habe!" Und halte ihr meinen Führerschein hin. "Toll Stefan. Willst du einen
Kaffee?" "Aber immer." Wir trinken Kaffee und unterhalten uns. "Na,
wie feierst du deinen Geburtstag?" "Gar nicht." Nicole kommt auf mich
zugestürmt. Sie klettert auf meinen Schoß und strahlt mich an. "Warum nicht?"
"Ich weiß nicht, es würde mich irgendwie ans Heim erinnern." "Es ist dein
erster Geburtstag draußen." "Ja." Ich gehe in meine Wohnung. Niemand ist
da. Niemand besucht mich. Ich bin allein. Ich schalte den Fernseher an und rauche
Zigaretten ohne Ende. Irgendwann schalte ich den Fernseher wieder aus und blättere in den
Fotoalben meiner Mutter. Tränen laufen mir herunter. Ich lege mich ins Bett und heule
los. Von Krämpfen geschüttelt rolle ich mich zusammen. Ich weine. Ich weine ohne Ende.
"Lebert Kempten, Strauch, Guten Tag." "Hallo, hier ist Helmut."
"Was gibts?" "Du willst doch ein Auto. Ich habe da vielleicht eins
für dich. Komm doch morgen vormittag um zehn bei mir vorbei."
Ein roter Audi 80 mit einem riesigen ,Werner oder was! Aufkleber steht vor
seinem Haus. "Er ist zwar schon zehn Jahre alt, aber er läuft wie am Schnürchen.
Achthundert will mein Kollege von der Feuerwehr dafür haben. Fahre ihn doch einfach mal
Probe." Ich setze mich in das Auto und fahre alleine einmal um den Block. Ich fahre
Auto. Ich lache und bin total aufgeregt. Als ich zurück bin, kommt Helmut auf mich zu.
Hundert Mark konnte ich ihn noch herunter handeln." "Ich nehme ihn."
"Siebenhundert. Abgemacht. Nächsten Mittwoch kannst du ihn haben. Bis dahin ist er
umgemeldet. Bis dann." Helmut und ich gehen hinauf in seine Wohnung. "Na, du
stolzer Besitzer deines ersten Autos" lacht mich Angi an. "Am besten ist, wir
melden ihn als Zweitwagen von mir an, dann ist es billiger für dich." Ich bin
einverstanden. Eine Woche später habe ich mein erstes Auto. KE-AL 6. "Kempten,
Allgäu und mein Hobby." Aber ich kann über meinen Witz nicht lachen. Ich muß zum
Einkaufen und ich fahre hin. Ich muß zum Briefkasten und ich fahre hin. Obwohl ich dafür
länger brauche als zu Fuß. Aber ich muß fahren, fahren, fahren. Vor allem kann ich
jetzt mit dem Auto zum Arbeiten fahren und muß nicht mehr eine halbe Stunde auf den Bus
warten.
Andreas ist vor ein paar Wochen über mir eingezogen. In ein noch kleineres Zimmer.
Weil er aus seiner alten Wohnung heraus geflogen ist. Er hat aus einer Kasse Geld
genommen. "He, Andreas, aufwachen. Wir fahren nach Italien." "Was?"
"Ja los, du Schlafmütze." In der Unterhose öffnet er die Zimmertüre und hat
eine Morgenlatte. "Du solltest dich schämen" grinse ich ihn an. "Was kann
ich denn dafür." Er lächelt verlegen und zieht sich eine Hose darüber. "Ich
will heute abend zum Gardasee fahren, morgen früh wären wir da. Hast du Lust?"
"Ich habe kein Geld." "Was machst du denn mit deinem ganzen Geld. Immer nur
Klamotten kaufen? Das kriegen wir schon irgendwie hin."
Ich fahre die ganze Nacht. Auf der alten Brennerstraße wird mir teilweise ganz schön
mulmig. Ich muß öfter anhalten, weil Andreas nie weiß wo wir sind. Ich nehme die Karte
und zeige es ihm. "Hier müssen wir runter von der Autobahn. Paß auf!"
Als es langsam heller wird, treffen wir am Gardasee ein. Ich bin hundemüde und fahre
auf einen Campingplatz. Eine Frau winkt uns heran. Sie macht uns einen guten Preis und ich
stelle mein Auto auf die freie Wiese. Wir bauen das Zelt auf und ich lege mich erst einmal
hin und schlafe. Abends gehen wir in eine Pizzeria. Ich bezahle alles. Andreas hat kein
Geld. Sonst leben wir von belegten Broten und Milch und Säften aus Kartons. Wir liegen am
Strand oder erkunden die Landschaft um uns herum. Mit der Zeit nerven wir uns nur noch an.
"Morgen müssen wir zurück fahren. Das Geld reicht gerade noch für die
Heimfahrt."
Am Samstag nachmittag fahre ich zum Hofgarten. Manfred, Harry und ein paar andere
liegen in der Sonne. Ich gehe zu ihnen. Harry hat kein T-Shirt an, nur kurze Hosen. Ich
sehe seinen nackten Oberkörper und Beine. "Hi, was läuft?" "Wo kommst du
denn her?" "Aus Italien!" Und halte meine Autoschlüssel in die Luft.
"Du hast ein Auto? Geil, laß mal sehen." Harry steht auf und ich gehe mit ihm
zu meinem Auto. Manfred kommt hinterher. "Komm, laß uns herumfahren!" Wir
steigen ein und fahren einfach durch die Stadt. Abends gehen wir ins Jugendhaus,
anschließend in den Ritterkeller. "Jetzt brauchen wir nicht immer auf Siggi warten,
wenn wir ins Melo wollen." Also fahren wir ins Melo. "Können wir bei dir
pennen?" fragt mich Harry auf der Rückfahrt. "Na klar." Im Flur liegt noch
eine alte Matratze. Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe die beiden nebeneinander
liegen. Ich sehe Harrys Oberkörper und kann ihn ungestört anstarren.
Edda
Nach einer Weile stehe ich auf, hole frische Brötchen und koche Kaffee. Langsam kommt
wieder Leben in die zwei. "Guten Morgen, ihr Schlafmützen." Die beiden kriechen
unter ihren Decken hervor und stehen in Unterhosen mitten im Raum. Ich konzentriere mich
auf das Frühstückvorbereiten. "Heute abend ist Fete am Herrenwieserweiher. Hast Du
Bock, dahin zu fahren." "Ja, warum nicht" antworte ich und ärgere mich
schon über meine Zusage. Fete am Herrenwieserweiher heißt vor allem Alkohol ohne Ende
und Berge von Menschen und Stechmücken und feuchte Kälte.
Nachmittags sind wir im Hofgarten und liegen in der Sonne. "Hi Edda, kommst du
heute auch zum Herrenwieser?" Harry, wir sind schon zu dritt. "Ja." Edda
setzt sich neben uns und baut sich eine Tüte. Ihre Augen sehen aus, als ob sie auf ihrem
Gesicht aufgesetzt werden. Sie zieht ein paar mal und reicht sie dann an Manne weiter. Er
zieht und hustet. Alle lachen. Ich bin dran. Ich ziehe und atme tief ein. Der Geruch
gefällt mir, aber ich habe nie verstanden, was einen da so benebelt. Edda liegt auf dem
Rücken und Harry raucht die Tüte zu Ende.
Später fahren wir los. Wir verlassen die Bundesstraße und die Straße wird immer
enger, kurviger und bergiger. "Hier rein!" ruft Harry zu mir. Beinahe hätte ich
die Zufahrt verpaßt. Ein schmaler Waldweg führt scheinbar ins Nirgendwo. Ich versuche,
den Schlaglöchern auszuweichen. Trotzdem wackeln wir uns stetig näher an den Weiher
heran.
Ich fahre auf die Seite und mache den Motor aus. "Warum fährst Du nicht ganz
vor?" will Manne wissen. "Wenn die anderen kommen parken sie mich ein und ich
habe nicht vor, hier zu übernachten!" "Warum denn nicht?" "Keine
Lust." Sie steigen aus und laufen zu der großen Wiese. Ich trotte hinter ihnen her
und beobachte ein paar kleine Kinder, die sich einen riesigen Ball zuwerfen. Eine Familie
grillt, oder versucht es zumindest. Hellgraue Rauchschwaden ziehen von ihrem kleinen Grill
in die Ferne.
Die anderen sitzen auf einer Decke und rauchen schon wieder eine Tüte. Ich lehne ab,
rauche eine Zigarette und schaue auf das Wasser. Ein Vater planscht mit seinem kleinen
Sohn. Neid kommt in mir auf.
Irgendwann verschwindet die Sonne hinter den Baumkronen. Die Familien sind
verschwunden. Dafür ist wohl das gesamte Jugendhaus schlagartig eingetroffen. Alle
grölen herum, trinken Bier und lachen. Irgendwie gehöre ich nicht dazu. Ich trinke auch
Bier, weil es nichts anderes gibt. Und rauche. Zigaretten. Edda sitzt die ganze Zeit neben
mir und redet. Ich höre ihr zu und manchmal sage ich auch etwas. Ich kenne sie sonst nur
betrunken oder bekifft oder beides zusammen. Aber jetzt wirkt sie völlig normal.
Viele sind schon wieder verschwunden. Manne und Harry sehe ich auch nicht mehr. Wir
sitzen um das Lagerfeuer. "Und jetzt Nacktbaden!" schreit einer. "Los komm
mit!" Edda zerrt mich hoch, reißt sich die Klamotten vom Leib und springt in das
Wasser. Ich ziehe mich schnell aus und gehe ins Wasser. Schneller als sonst. Niemand soll
mich nackt sehen. Das Wasser ist nicht gerade warm aber es geht. Ich tauche ein paar Meter
im Dunkeln. Als ich auftauche, kommt Edda zu mir. Wir stehen uns gegenüber und aus dem
Wasser schauen nur unsere Köpfe. Sie umarmt mich uns drückt ihre Lippen auf die meinen.
Bei mir regt sich etwas. Aber nur wenig. Ich spüre ihre S****h***e an meinem S*****z. Ist
es zu kalt oder habe ich zuviel getrunken? Ich löse mich von ihr. Kaltes Wasser kommt an
meine Brust, wo eben noch Eddas Körper war. "Mir ist kalt" sage ich kurz und
gehe schnell aus dem Wasser. Ich ziehe mich rasch an und verschwinde.
Die weißen Mittelstreifen verschwinden unter der Motorhaube. Irgendwann bin ich auf
dem Parkplatz vor meinem Zimmer.
Trainer
Ich fahre nach Hegge und sehe vor dem Vereinsheim die Jungen von der A-Jugend stehen.
Ich halte an und frage, wo sie spielen. "In Altusried, aber unser Trainer ist im
Krankenhaus." "Ich kann euch ja helfen mit dem Schreibkram." Die ältesten
der Jungen sind so alt wie ich. Achtzehn. Nur weil ich 12 Tage zu früh geboren bin, darf
ich nicht mehr in der A-Jugend spielen. Die Erwachsenen spielen mir zu brutal. Nach zwei
Spielen habe ich aufgehört. Manche sind erst sechzehn. Wir fahren nach Altusried. In der
Umkleidekabine fülle ich den Spielbericht aus. Die Jungen ziehen sich um und ich
beobachte sie heimlich. Sie verlieren das Spiel und nun ist es meine Aufgabe, sie wieder
aufzubauen. Beim Duschen sind die meisten wieder auf andere Gedanken, jetzt sehe ich
Bernhard ganz. Samtige goldbraune Haut, schlanker Körper, unbehaart. Wie Harry. Mir wird
heiß und ich sehe schnell weg.
Seitdem bin ich Trainer. Als ihr eigentlicher Trainer aus dem Krankenhaus zurück
kommt, macht er noch bis zu den Sommerferien mit, dann bin ich alleine. "Du bekommst
alle Unterstützung die du brauchst." Ich bekomme sie, aber beim Training und
meistens auch beim Spiel bin ich allein. Jetzt gewinnen die Jungen wieder und es ist
leichter, sie zu motivieren. Wir haben meistens viel Spaß. Und beim Training bin ich
immer mit dabei.
Ich habe Urlaub und schlafe aus. Es klopft an meiner Zimmertüre. "Wer ist
da?" "Rudi." Ah, Rudi, mein dicker Nachbar von oben. Er ist vierzig oder
fünfzig und wohnt oben neben Andreas in einem ebenso kleinen Zimmer. In Boxershorts mache
ich ihm auf. "Du Stefan, ich muß dringend nach Kaufbeuren, kannst du mich
hinfahren?" "Ich habe kaum noch Benzin im Tank, das muß noch bis Ende der Woche
reichen!" "Ich bezahle dir das Benzin, ist doch selbstverständlich." Also
fahren wir nach Kaufbeuren, zu seiner Freundin. "Es dauert nur eine Stunde oder so.
Hole mich nachher einfach hier wieder ab, okay?" Ich spaziere durch Kaufbeuren und
kaufe gleich ein bißchen was fürs Wochenende ein. Beim Einsteigen zeigt mir Rudi, daß
mein Auto auf der Beifahrerseite am Boden durchgerostet ist. "Scheiße, den kriege
ich so nie durch den TÜV." "Ich kenne einen Automechaniker. Der verkauft auch
billig Autos. Wir können ja schnell noch bei ihm vorbei fahren." Sein Freund zeigt
mir einen schwarzen Golf mit Schiebedach. Er gefällt mir sofort. "Es fehlt nur noch
der Fahrzeugbrief, aber der müßte in zwei Wochen da sein. Zweitausendzweihundert. Das
ist fast geschenkt." "So viel habe ich nicht." "Rufe doch bei der
Sparkasse an, die geben dir bestimmt einen Kredit." Ich bekomme einen Kredit. Aber
das Geld gebe ich für alles mögliche aus.
"In mein Auto regnet es unten rein, ich brauche jetzt den Golf." Ich bin bei
dem Automechaniker. "Der Fahrzeugbrief fehlt noch immer. Tut mir leid."
"Bei dem Schneematsch rostet der bestimmt bald völlig durch." "Du kannst
ja in der Zwischenzeit den hier haben." Er zeigt auf einen weinroten Mitsubishi
Galant. "Bist du schon mal mit Automatik gefahren?" Ich schüttle den Kopf.
"Das ist ganz einfach." Also fahre ich jetzt mit dem Flaggschiff durch die
Gegend.
"Wo ist Manne?" Harry schaut mich fragend an. "Du weißt es
nicht?" "Nein, was?" "Manne ist mit einem Kumpel nach Amerika. Die
wollen auswandern." "Da bin ich ja gespannt, wann sie wieder kommen." Harry
pennt jetzt jedes Wochenende bei mir. Ich habe ihm einen Schlüssel gegeben. Aber die
meiste Zeit sind wir ohnehin zusammen unterwegs. Er sitzt mit einer labberigen Unterhose
am Tisch. Ich sitze auf dem Boden und kann seine E**r sehen. Meine Hände werden feucht.
Ich ziehe mein T-Shirt nur zum Schlafen aus. Ich schäme mich vor ihm. Und kurze Hosen
trage ich sowieso nicht. "Ich lege mich aufs Ohr." Harry liegt mit seiner
Unterhose ohne Decke auf der Matratze. Ich betrachte ihn und hole mir dabei einen runter.
So würde ich auch gerne aussehen.
Heilig Abend
"Kommst du Heilig Abend zu uns?" Mein Vater und ich bekleben Kartons mit
Etiketten. "Nö, ich will Weihnachten mit ein paar Freunden feiern." Er ist
einen Moment still. "Lore gibt sich solche Mühe. Sie wäscht deine ganze Wäsche.
Ein bißchen könntest du ihr schon Anerkennung zeigen." Ich sage nichts mehr.
Seitdem bringe ich meine gesamte Wäsche zur Wäscherei. Die fragen wenigstens nicht:
"Was, schon wieder zwei Hosen?"
Ich sitze mit Harry vor dem Fernseher. Wir trinken Wein und rauchen Zigaretten. Wir
reden stundenlang. In seiner Nähe fühle ich mich wohl. Wir lästern über Weihnachten.
Weihnachten. Ich erzähle ihm von Weihnachten bei meiner Mutter. Wie schön es war. Von
den Weihnachtsfeiern im Heim und bei meinem Vater und seiner Frau. Er muß lachen, als ich
ihm von der ,Wochenend erzähle. Ich sage ihm, wie sehr ich mich danach sehne,
Weihnachten in einer richtigen Familie zu feiern. Harry scheint mich zu verstehen.
Irgendwie.
Kurz nach Neujahr klingelt es nachts um eins. Ich wache auf. Wer will denn jetzt noch
zu mir. Verschlafen gehe ich nach unten. "Manne? Eh Manne!" Ich schließe die
Haustüre auf und umarme ihn. Ich bin froh, ihn wieder zu sehen. Manne und Manfred kommen
mit hoch. "Wo sind eure Sachen?" "Die haben wir in einer Kiestruhe
versteckt. Wir wußten ja nicht, ob du da bist. Wir wissen auch nicht wo wir pennen
können." "Na hier, wo sonst!" Wir holen ihre Sachen und sie erzählen mir
von ihrem Trip in die USA. "Einmal hat es abend voll gepißt und wir wußten nicht,
wo wir waren. Wir haben unser Zelt aufgestellt und am nächsten Morgen, als wir
aufwachten, waren wir mitten auf einem Schulhof." Ich lache lauthals los. "Das
glaube ich nicht." "Das stimmt wirklich. Das war vielleicht peinlich, wie wir
mit kurzen Hosen aus dem Zelt stiegen und die ganzen Kids uns anstarrten." Ich kriege
mich nicht mehr ein. "Machst du jetzt deine Ausbildung weiter?" "Nö,
keinen Bock." "Was hast du jetzt vor?" "Keine Ahnung, mal sehn."
Wir reden noch eine Weile. "Ich muß langsam mal ins Bett. Ich muß morgen arbeiten.
Ihr könnt ruhig liegen bleiben. Wenn ihr geht, werft ihr den Schlüssel einfach in den
Briefkasten.
Manne wohnt jetzt erst einmal bei mir. Harry kommt kurze Zeit darauf dazu, weil er zu
Hause hinaus geflogen ist. Jetzt habe ich zwei Untermieter. Es ist zwar ziemlich eng, aber
die beiden machen meinen ganzen Haushalt, gehen einkaufen, spülen ab. Irgendwann haben
die beiden wieder einen anderen Pennplatz gefunden. Es ist auch ganz angenehm, wenn ich
nach dem Arbeiten meine Ruhe habe.
Das erste Mal
Mein Autodealer hat den Mitsubishi Galant verkauft. Dafür habe ich jetzt einen
pissgelben Fiat 151. Nach langem Orgeln springt er endlich an. Ich fahre zum Ritterkeller.
Vor der Türe sehe ich Manne. Ich setze mich neben ihn und stecke mir eine Zigarette an.
"Hi Alter. ganz schön kalt was. Warum gehst du nicht hinein?" "Hier,
willst du auch mal?" Manfred hält mir eine zwei Liter Flasche Lambrusco hin.
"Ich darf sie nicht mit hinein nehmen." Ich nehme einen Schluck. Es schmeckt
klebrig süß. "Ist ein Kilo Zucker drin, dann dröhnt es besser." Manfred
klärt mich auf. Nach einer Weile finde ich alles nur noch witzig. Als die Flasche leer
ist gehen wir in den Ritterkeller hinein. Das heißt ich gehe und Manne torkelt neben her.
Heidi und Mary sind auch da. "He, wo kommt denn ihr her?" "Von
draußen." Manfred lacht und torkelt weiter. "Hi, lange nicht mehr gesehen. Seid
ihr mit dem Auto da?" "Nein, wir wohnen jetzt in Kempten und brauchen zum Glück
keines mehr von unseren Brüdern." "Wo denn?" "Gleich hier um die
Ecke." "Praktisch." Ich treffe die beiden Schwestern sehr selten. Ab und zu
fahren wir zusammen ins Melo. Obwohl die beiden völlig unterschiedlich aussehen,
verwechsle ich immer ihre Namen. "Tolle Faschingsdekoration. Ein Bier, bitte."
Jackson gibt mir ein Bier und quatscht mich dann zu. "Ist umsonst. Heute ist
Faschingsparty, jeah." Er dreht die Musik auf und singt dazu. Naja, singen möchte
ich das nicht nennen. "Wir fahren ins AHA, willst du mit?" schreit mir Heidi ins
Ohr. "Wo ist denn das?" "In Marktoberdorf." "Ich dachte ihr habt
kein Auto mehr." "Andi fährt." Heidi zeigt auf ein Mädchen, das am
Billardtisch neben Mary steht. "Ja klar, warum nicht." Wir fahren in dem roten
VW Jetta ihrer Eltern viel zu schnell über die Bundesstraße. Ich sitze neben Andi und
wir unterhalten uns. Über Arbeit, Urlaub, Jugendhaus. Im AHA reden wir weiter. Lachen.
Rauchen Zigaretten. Wir verstehen uns auf Anhieb.
Am nächsten Wochenende fahre ich zu ihr nach Hause. Ihre Mutter öffnet und ruft nach
Andi. "Komm rein." Andi schließt die Zimmertüre hinter mir. "Die wird
nachher wieder eine Menge fragen." "Und, was unternehmen wir?" "Keine
Ahnung, schlag du etwas vor." "In Hegge ist heute Faschingsball der Fußballer.
Da kommen wir zumindest umsonst hinein." Wir fahren mit dem Klapper-Fiat nach
Waltenhofen. Vor der Sporthalle parke ich ein und bleibe sitzen. Wir schauen uns an.
"Und nun?" frage ich sie. "Ich weiß nicht." "Sind wir jetzt
Freund und Freundin?" frage ich kindisch. Wir lachen los und küssen uns dann ganz
sanft. Hand in Hand gehen wir in die riesige Halle. Tausende tanzen und lachen umher.
Viele klopfen mir auf die Schulter. "Aha, jetzt mit Freundin" und andere dumme
Sprüche. "Mich nervt das hier." Andi nickt zustimmend. "Was sollen wir
tun, überall wird Fasching gefeiert?" Andi hebt ihre Schultern. "Wir können zu
mir fahren, da haben wir wenigstens unsere Ruhe." Andi nickt und wir verlassen den
Raum der Fröhlichkeit.
"Auch Wein?" frage ich sie. Wir unterhalten uns. Trinken Wein. Rauchen
Zigaretten. Ab und zu küssen wir uns. "Ich glaube, man muß nicht drei Monate
warten, bis man miteinander schläft." Was hat sie gesagt? "Das finde ich
auch." Habe ich das gesagt? Was soll ich denn nun machen? Wir sitzen auf meinem Bett
und ziehen uns gegenseitig aus. Mein S*****z wird steif. Sie legt sich auf den Rücken und
zieht mich auf sie. "Ich nehme die Pille." Das erklärt alles. "Du mußt
ganz vorsichtig sein" sage ich zu ihr und muß ein bißchen grinsen. Eigentlich
müßte es ja das Mädchen zum Jungen sagen. Sie spreizt ihre Beine, nimmt meinen S*****z
und flutsch, drin ist er. Endlich, ich schlafe mit einer Frau. Es ist warm und feucht. Ich
bewege mich kurz und dann kommt es mir auch schon. Sie stöhnt und ich bewege mich weiter.
Irgendwann krallt sie ihre Finger in meine Rippen und erschlafft dann. Ich lege mich neben
ihr auf den Rücken und sie setzt sich auf. "Denke jetzt nichts falsches, aber ich
will jetzt eine rauchen." Ich nicke und Andi steckt mir auch eine an. "Das war
echt gut." Meint sie mich? Ich ziehe mir rasch etwas über und renne aufs Klo.
Klappernd komme ich zurück und krieche wieder zu ihr ins Bett. "Und da sagtst du, du
bist zu dick, man kann ja alle Rippen sehen." Andi sitzt auf mir und fährt mit ihren
Händen über meine Brust. Dann beugt sie sich nach vorn und schiebt meinen S*****z wieder
in sich rein. Sie reitet munter drauf los und mit der Zeit ist mir fast ein bißchen
langweilig. Mir ist es längst wieder gekommen, aber sie scheint ihren Spaß zu haben.
Schließlich bleibt sie erschöpft auf mir liegen. Irgendwann schlafe ich ein. Jetzt bin
ich ein richtiger Mann.
Nizza
"Du sollst zum Eggert hoch kommen." Mein Kollege sieht mich bedauernd an.
"Ihr Zwischenprüfungsergebnis ist ja ganz gut, aber ihr Zwischenzeugnis liegt bei
weitem unter Durchschnitt. Ich möchte ihnen nahelegen, sich mehr anzustrengen. Ansonsten
sehe ich das Ausbildungsziel gefährdet. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den richtigen
Ausbildungsberuf gewählt haben. Was haben sie dazu zu sagen?" "Nichts."
Ich hebe die Schultern. Pause. "Sie können jetzt gehen."
"Herr Strauch, können sie mal kurz zu mir herüber kommen?" Ich gehe zu
Fräulein Quin ins Personalbüro. "Herr Eggert hat sich bei mir beschwert. Er
wünscht, daß sie sich anständig kleiden. Und er möchte nicht, daß sie Ohrringe
tragen. Tragen sie Ohrringe?" "Nur die kleinen Stecker." Ich zeige sie ihr.
"Die sind mir gar nicht aufgefallen. Tun sie ihm den Gefallen und stecken sie ihr
Hemd rein." Ich gehe.
Als ich in der Halle meinen Vater treffe, läßt er sich auch noch aus. "Herr
Eggert hat mit mir gesprochen. Ich soll mal ein ernsthaftes Wort mit dir reden. Nimm doch
die Ohrringe beim Arbeiten heraus. Und steck das Hemd rein." "Warum sagt er mir
das denn nicht selbst?" Er antwortet nicht.
Am Freitag vor Pfingsten fahre ich zum Jugendhaus. Seit ein paar Wochen habe ich
endlich meinen schwarzen VW Golf. Mit offenen Fenstern und Schiebedach fahre ich mit
dröhnender Musik auf dem Parkplatz beim Hofgarten. Peter, Manfred und seine Freundin
Christine kommen mir entgegen. "Habt ihr Lust nach Italien zu fahren? Ich war vor
zwei Jahren mit Birgit in Varigotti. War voll geil da." "Wann denn?" wollen
sie wissen. "Jetzt?" Wir fahren zu mir, zu Peter und zu Manfred seiner Freundin
und packen ein paar Sachen ein. Ich fahre die ganze Nacht und schlafe in der
Morgendämmerung fast ein. "Laß mich doch mal fahren. Ich habe jetzt doch auch einen
Führerschein." Ich sitze neben Peter und mir wird flau im Magen. Er krallt sich ans
Lenkrad und verlenkt jedesmal beim Schalten. Nach einer halben Stunde fahre ich wieder
selbst. "Tut mir leid, Peter, aber bei deinem Fahrstil kann ich wirklich nicht
schlafen." Wir sind in Italien. Es ist heiß. Trotz geöffneten Fenstern und Schiebedach.
Gegen Mittag sind wir da. Ich finde die Plattform wieder und erinnere mich an den Urlaub
mit Birgit. Mein erster richtiger Urlaub. "Laß uns zum Meer zum Baden."
Es ist schrecklich heiß und wir tollen im warmen Wasser herum. Irgendwann bin ich nur
noch müde und schlafe am Strand ein. Nach ein paar Stunden wache ich auf. Meine Haut
glüht. Mein Rücken ist knallrot. Die anderen schlafen auch. Ich wecke sie. Wir sind alle
etwas benommen von der Hitze und suchen uns einen schattigen Platz. "Wo wollen wir
schlafen?" frage ich die anderen. "Hier nicht. Laß uns noch ein
Stückchen weiterfahren." Wir fahren am Strand entlang, finden aber keine geeignete
Stelle. "Sollen wir zurück fahren?" "Nein, ich habe keine Lust, den ganzen
Weg zurück zu fahren. Es kommt bestimmt gleich was." Nach einiger Zeit kommen fremde
Schilder: ,Duane - 5 km. "Wir sind gleich in Frankreich!" "Auch gut,
warum nicht?" In Nizza geht die Straße direkt am Strand lang. "Hier bleiben
wir!" Ich suche einen Parkplatz und wir gehen erst einmal einkaufen. "Ganz
schön teuer hier!" Wir essen am Strand. Die Sonne geht langsam unter. Die Hitze
läßt nach. Ein lauer Wind weht über uns hinweg. Ich sehe auf das Meer. Hier würde ich
gerne bleiben. Wir fahren ein Stück zurück und ich biege in die nächste Seitenstraße
zum Meer hin ab. Der Weg wird schmaler und endet schließlich direkt am Strand. Ich stelle
das Auto unter einen kleinen Baum. Wir gehen den Kiesstrand hinunter und legen uns in
unsere Schlafsäcke. Es ist fast dunkel. Unter klarem Sternenhimmel schlafe ich ein.
"Bojour! - Allemand?" Neben dem schmalen Weg steht versteckt ein kleines
Holzhaus. Ein älteres Ehepaar steht auf dem Balkon und winkt uns zu. Wir winken zurück.
"Hoffentlich verjagen die uns nicht." "Ach, die scheinen ganz nett zu
sein."
Wir fahren zum Strand von gestern und holen uns was zum Frühstücken. Dann liegen wir
den ganzen Tag in der Sonne und planschen ab und zu im Meer. Ich fühle mich frei. Abends
duschen wir. Am Gehweg stehen ein paar Duschen. Ohne Kabine. Völlig alleinstehend direkt
am Straßenrand. Wir lachen uns kaputt, während vorbeifahrende Leute uns irgend etwas
zurufen und uns winken.
Zum Einkaufen gehen wir in einen großen Supermarkt. "Hier ist ein Photoautomat,
laßt uns Bilder machen!" schlägt Christine vor und hüpft vor uns herum. Typisch
Kind denke ich mir. Christine ist erst 14. Aber die Bilder machen wir trotzdem.
"Wir müssen langsam los, morgen habe ich Berufsschule" sage ich zu den
anderen am Montag Abend. Ich fahre in die Dämmerung hinein und als es schließlich dunkel
ist, sind wir immer noch in Frankreich. Es fängt an zu regnen. Die anderen schlafen. Die
Straße ist schmal. Manchmal tauchen plötzlich schwache Scheinwerfer auf und flitzen an
mir vorbei. Ich werde müde, aber ich muß weiterfahren. Seit Ewigkeiten habe ich keinen
Abzweig mehr gesehen. Hoffentlich stimmt die Richtung. Ich werde nervös. Die Tanknadel
wandert auf die rote Fläche. Als sie fast auf Null steht, sind wir an der Schweizer
Grenze. Es ist ein Uhr nachts. Ich frage die Zöllner nach einer offenen Tankstelle und
finde sie dann kurz darauf auch. Ich fahre weiter, die anderen schlafen schon wieder. ,San
Bernardino Tunnel. Ich habe keine Autobahnplakette. Aber das ist mir jetzt egal. Die
Reifen dröhnen in dem langen Schlauch. Die gelb-rötlichen Lichter wirken einschlummernd.
Meine Augen fallen zu. Ich öffne das Fenster. Es dröhnt. Ich rauche eine Zigarette nach
der anderen um mich wach zu halten.
Ich schrecke hoch. Ein Schlag am rechten Hinterrad. Das Auto fährt noch im Tunnel.
Manne schaut verschlafen hoch. "Was war das." "Nichts." Ich zittere am
ganzen Körper. Am Ende des Tunnels bleibe ich auf der Ausfahrt stehen. Motor aus. Augen
zu.
Ich wache fröstelnd auf. Es dämmert ein bißchen und es schneit. Barfuß und nur mit
Shorts und Träger-Shirt bekleidet tapse ich nach draußen und suche im Kofferraum etwas
warmes zum Anziehen. Ich klappere vor Kälte und ziehe mir schnell etwas an. Dann sehe ich
mir den rechten Hinterreifen an. An der Felge ist eine kleine Delle. Der Tunnel. Der
Mantel scheint in Ordnung zu sein. Das Auto steht ziemlich ungünstig am Rande der
Abfahrt. Zum Glück wurden wir nicht erwischt. "Was ist?" fragt mich Peter, als
ich wieder einsteige. "Da war vorhin so ein komisches Geräusch, aber es ist alles
Okay." Wir fahren weiter.
Etwas verspätet, hundemüde aber rotbraun sitze ich in der Berufsschule. Die anderen
schauen mich neidisch an. "Wo warst du denn?" "Übers Wochenende in
Nizza." Und ich muß lächeln.
Macke
Wir sitzen im Hofgarten und trinken ein paar Bier und rauchen Zigaretten. Weil es
heiß ist, kühlen wir uns im Springbrunnen immer wieder ab. Mit klitschnassen Klamotten
legen wir uns wieder hin und labern ohne Ende. "Wer brüllt denn da so herum?"
Ein lautes Schreien tönt von der Lorenzkirche her. "Ach, das ist bestimmt Macke. Der
hängt in letzter Zeit auch immer hier herum." Ein schmaler, schlanker Junge mit
bunter Hose und freiem Oberkörper kommt auf uns zu. Er ist ziemlich blaß und seine
dunklen Haare hängen ihm in sein freches Gesicht. Ich beneide ihn um seinen Körper. So
schlank, so jung, so unbehaart, so schön. Verdammt. Ich werde rot und drehe mich weg. Ein
roter VW Jetta kommt auf dem Parkplatz. Andi. Ich verstehe gar nicht, warum sie sich schon
wieder in mich verliebt hat. Ich mag Andi ganz gerne, aber ich liebe sie nicht.
"Hi" sagt sie leise, blinzelt in die Runde und setzt sich neben ich.
"Hallo, sind wir gerade zusammen oder getrennt?" Andi lacht und holt aus aber
ich bin schneller. "Denkste." "Wir haben halt eine besondere
Beziehung." Andi nickt bedeutungsvoll. "Mit regelmäßigen
Unterbrechungen."
Andi rast durch die Straßen. Ich sitze daneben und lasse den Wind in mein Gesicht
blasen. Warum kann ich nicht so aussehen wie Macke oder Harry? "Was ist mit
dir?" "Ein bißchen müde, und die Hitze."
Es ist ein heißer Sommer. Am 8.8.88 heiraten lauter Verrückte. Die Kirchenglocken
lärmen den ganzen Tag. Die Brautpaare und ihr Anhang kommen nach der Zeremonie in den
Hofgarten zum Bilder machen. Wir lachen uns kaputt. Die Leute sind entsetzt.
Manchmal kochen Manne und Harry bei mir etwas und wir essen dann alle im Hofgarten.
Essen auf Rädern. Wir liegen den ganzen Nachmittag in der Sonne. Abends gehen wir ins
Jugendhaus. Danach in den Ritterkeller, der jetzt auch Starclub heißt. Dann bleiben
meistens nur noch Harry und ich übrig. Während meines Urlaubs fahren wir fast jede Nacht
zur Autobahnraststätte Allgäuer Tor und trinken Kaffee. "Was hast du in Zukunft
vor?" "Irgendwann gehe ich nach Berlin." "Dann mußt du mich
mitnehmen." Ich verspreche es Harry. Ich hätte ihn gerne bei mir.
No Future?
"Nahverkehr, Strauch." "Hier ist Fräulein Quin, kommen sie bitte zu
Herrn Eggert." Ich gehe hoch und klopfe an. "Herein." Ich betrete das
Zimmer und bleibe vor Herrn Eggerts Schreibtisch stehen. Fräulein Quin steht neben ihm.
"Wo waren sie letzten Freitag?" "Krank." "Und am
Nachmittag?" "Das weiß ich nicht mehr." "Ach sie wissen Montag schon
nicht mehr, wo sie am Freitag Nachmittag waren. Dann sind sie vielleicht für den Beruf
des Speditionskaufmannes nicht geeignet." "Vielleicht war ich zu Hause oder
spazieren." "Zu Hause waren sie jedenfalls nicht, wir haben das
überprüft." "Und, was haben sie herausgefunden?" "Werden sie hier
nicht frech! Ich glaube nicht, daß sie krank waren. Sie melden sich auffallend oft an
Freitagen telefonisch krank." "Ich hatte am Freitag eine Magenspiegelung."
"Und das soll ich ihnen glauben?" "Ja, natürlich." "Ich erwarte
unverzüglich eine Bestätigung ihres Arztes wegen der Magenspiegelung." "Ich
war krank, das muß ihnen reichen. Sonst noch etwas?" Herr Eggert schüttelt
irritiert den Kopf. Ich gehe hinaus und schließe hinter mir die Türe. Später ruft mich
Fräulein Quin in ihr Büro. "Herr Eggert war stinksauer und hat herum geschrien,
weil sie so gelassen vor ihm standen. Das hat ihn mächtig gereizt."
Ein paar Wochen später werde ich zum Betriebsrat gerufen. Acht Personen sitzen im
Besprechungsraum. "Sie wissen, worum es geht?" "Ja." "Wir
möchten sie zu den Vorkommnissen anhören. Herr Eggert möchte ihnen kündigen"
"Und was werden sie für mich tun können?" Betretenes Schweigen. "Herr
Strauch, sie versauen sich doch sämtliche Chancen im Leben." "Nein. Aber das
werden sie niemals verstehen."
"Soll ich noch mal mit Herrn Eggert reden?" "Nein, ich will dort nicht
mehr weiter arbeiten, sein Sklave sein." "Lehrjahre sind nun einmal keine
Herrenjahre." "Und deswegen dürfen bei ihm Azubis auch nicht rauchen,
oder?" Mein Vater und seine Frau reden auf mich ein. Meine Zukunft, warum machen sie
sich plötzlich Gedanken über meine Zukunft? In Kempten habe ich keine Zukunft.
Ende Oktober bekomme ich die fristlose Kündigung. Unzählige Spannungen in mir lösen
sich, als ich das Firmengebäude das letzte mal verlasse. Frei!
Kreuzberger Nächte
Ein paar Tage später fahre ich zu Siggi nach Berlin. Völlig erschöpft komme ich in
der Früh um sieben an. Ich warte bis halb neun, bis ich Siggi aufwecke. "He
Keule!" "Hi Sidschi!" "Komm rein. Seit wann bist du hier."
"Seit um sieben, aber ich wollte dich nicht so früh wecken. Ich bin die ganze Nacht
gefahren und hundemüde." "Da ist eine Matratze zum Pennen."
Als ich aufwache blitzt es. Dann Lachen. Siggi hat ein Foto gemacht. "Sehr
witzig!" "Los, steh auf, du fauler Sack. Abendbrot ist fertig. Toast!" Wir
essen den Toast und quatschen über das Allgäu. "Ich werde nach Berlin ziehen."
"Das haben schon viele gesagt."

Siggi zeigt mir das Berliner Nachtleben. Wir machen eine Kneipentour entlang der
O-Straße in Kreuzberg. Siggi trinkt ein Bier nach dem anderen und ich trinke mit. Völlig
am Ende komme ich am nächsten Morgen mit ihm zurück. Dann pennen wir den ganzen Tag und
abends geht es wieder von vorn los. Zwischendurch will ich an die Mauer. Sie wird mich vor
der Bundeswehr schützen. Nach einer Woche Nachtleben fahre ich zurück nach Kempten.
Bundeswehr
Es ist Samstag und ich will ausschlafen. Es klopft. Manne und Harry. "Ich will
noch schlafen, kommt später wieder." Sie gehen.
Harry spricht seitdem kein Wort mehr mit mir. "Was ist mit Harry?" will ich
von Manne wissen. "Er ist sauer auf dich, weil du letztens nicht aufgemacht
hast." "Und deswegen redet er nicht mehr mit mir?" Manfred nickt. "Ich
verstehe ihn auch nicht."
"Was ist mit dir, du bist so ruhig?" Manfred druckst herum. "Nun sag
schon!" Er holt einen verknüllten weißen Zettel aus seiner Tasche. "Ich muß
zur Bundeswehr." "Oh, scheiße." "Ich gehe da nicht hin."
"Sie werden dich mit Feldjägern suchen. Du wirst mächtig Probleme bekommen."
"Das ist mir egal."
Ein paar Tage später sitzen wir im Ritterkeller. Manfred sitzt vor einem Spielautomat
und Peter redet auf ihn ein. "Du hättest heute um achtzehn Uhr in Würzburg sein
müssen. Du machst dich strafbar. Kapierst du nicht? Du kannst dafür in den Knast
kommen." Ich höre nicht mehr zu. Harry sitzt in der Ecke und raucht eine Zigarette.
Unsere Blicke treffen sich. Aber er spricht nicht mit mir. Irgendwie tut es weh. "Eh,
Steven, wenn ich dir das Benzin bezahle, fährst du Manne dann nach Würzburg?" Ich
nicke nur. "Wann?" "Morgen früh, so daß er um sieben Uhr da ist."
"Kann ich mitfahren?" Harry. "Na klar." Um eins macht der Ritterkeller
zu. Manne, Harry und ich gehen zu mir. Wir unterhalten uns über die Bundeswehr. Manne ist
ziemlich ruhig. Um halb vier fahren wir los. Die beiden schlafen. "Wir sind da!"
rufe ich den beiden zu. Wir fahren auf einer weiten Ebene auf eine Kaserne zu. ,Mit
Standlicht fahren steht auf einem Schild. Als wir am Kasernentor sind, kommt ein
Amerikaner in Uniform auf uns zu. Umständlich versuche ich mit schlechten Englisch
klarzumachen, wohin wir wollen. Er zeigt in eine andere Richtung. Ich fahre den langen Weg
zurück und finde schließlich die richtige Kaserne. Es ist halb sieben. "Die werden
mächtig sauer sein." Manne steigt schweigend aus. "He, Kopf hoch, so schlimm
wird es schon nicht sein." Wir umarmen uns kurz und dann geht er zum Tor. Er sieht
sich noch mal um. Winkt. Geht hinein. Redet mit einem Wachsoldaten und verschwindet dann
auf dem Gelände. Mein Magen preßt sich zusammen. Es ist wie ein Abschied für immer.
Harry und ich steigen wieder ins Auto und fahren nach Würzburg. Die Straßen und
Plätze sind leer. Es sieht aus, als ob hier pausenlos geputzt würde. "Was machen
wir jetzt?" fragt mich Harry. "Gehen wir ein bißchen spazieren." Wir gehen
durch den kalten Morgen und kehren ziemlich bald zum Auto zurück. Wir sind wieder auf der
Autobahn Richtung Kempten. Endlich reden wir wieder miteinander. Es ist wie früher. Ich
bin erleichtert.
Am Freitag Nachmittag ruft mich Manne an. Ich hole ihn vom Bahnhof ab und freue mich,
ihn zu sehen. Er erzählt mir von seiner ersten Woche und lacht dabei. Durch seine
Leck-mich-am-A***h-Art schafft er es dann auch noch tatsächlich, innerhalb kürzester
Zeit wieder aus dem Laden hinaus zu fliegen.
Musterung
Am 10. März gehe ich zum Kreiswehrersatzamt. Musterung. Ich habe die ganze Nacht
Kaffee getrunken und nicht geschlafen. Ein uniformierter Mann hinter dem Schreibtisch
schreit herum. Ich zucke zusammen. "Sie habe ich nicht gemeint. Ihr Name bitte!"
Ich sitze im Wartezimmer und zittere ein wenig. Dann geht es los. Becher Urin abgeben,
Körpergröße und Gewicht feststellen. Wartezimmer. Der nächste Arzt zählt mit einer
Höchstgeschwindigkeit sämtliche Krankheiten auf, die es zu geben scheint. Ab und zu
versuche ich ja zu sagen, aber der Arzt hört es nicht. Wartezimmer. In der nächsten
Runde soll ich Kniebeugen machen. Der Arzt hört meinen Herzschlag und die Lungen ab,
mißt Blutdruck und faßt dann ohne Vorwarnung an meine Lenden. "Husten sie
mal." Ich tue es und er nimmt seine Hände wieder aus meiner Hose heraus.
"Drehen sie sich mal um und ziehen sie die Hose herunter." Er drückt mich nach
vorn, betrachtet mein A****l**h und sagt dann: "Das wars." Ich ziehe mir
schnell die Hose hinauf und gehe zurück ins Wartezimmer. Im nächsten Zimmer sitzen drei
Leute in blauen Uniformen. Hinter ihnen eine Deutschlandfahne und ein Bild von
Weizsäcker. "So, Herr Strauch, hier ist ihr Musterungsbescheid. Sie sind kerngesund
und haben nur leichte Einschränkungen. Wenn sie nicht bald eine neue Ausbildung anfangen,
sollten sie sich überlegen, ob sie sich nicht freiwillig bei uns melden." Ich nicke.
Bevor die mich kriegen, bin ich in Berlin.
Tschüs Kempten
Am Ende des Monats fahre ich mit Kai, dem jüngeren Bruder von Christian und Wolfgang,
für zwei Wochen nach Berlin. Wir kommen abends an und fahren zu seinem Vater. "Was
willst du denn hier?" fragt er wenig erfreut. "Wie lange bleibt ihr hier?"
"Zwei Wochen" antworte ich schnell. "Dann nimmst du Kai aber wieder
mit!" Ich erzähle ihm von meinen Plänen nach Berlin zu ziehen und er nickt die
ganze Zeit nur. "Wenn du willst, kannst du dich bei mir anmelden" sagt die Frau,
mit der Kais Vater zusammen lebt. "Danke, das wäre echt toll." Er sagt mir
noch, daß ich zu ihm kommen soll, wenn ich einen Job suche und dann verschwinden Kai und
ich wieder. Ganz schön komische Leute. Ich besuche Heidi. Sie ist eben nach Berlin
gezogen und ich frage sie, ob ich bei ihr wohnen kann. Sie ist einverstanden. Obwohl wir
uns gar nicht so gut kennen.
Als ich zurück in Kempten bin, habe ich die Kündigung meiner Wohnung zum 30.04.89 im
Briefkasten. Ich habe die beiden letzten Mieten nicht bezahlt. Frau Wipper hat sich
mächtig darüber aufgeregt, aber ich habe ihr nur gesagt, daß die Dusche seit Wochen
nicht funktioniert. Jetzt funktioniert die Dusche zwar, aber bezahlt habe ich trotzdem
nicht. Eine Vorladung zur Eignungs- und Verwendungsprüfung vom Kreiswehrersatzamt liegt
noch in meinem Briefkasten. Am nächsten Vormittag rufe ich dort an und sage, daß ich im
Mai vereist sein werde. "Wir schicken ihnen dann eine neue Karte." Bis die
kommt, bin ich längst in Berlin, denke ich mir und bedanke mich freundlich.
Am 30.04. räume ich meine Wohnung aus, verschenke die meisten Sachen an Peter und
packe den Rest in den Kofferraum und auf die Rücksitzbank meines Autos. Frau Wipper fragt
pausenlos nach dem Schlüssel. "Um Mitternacht können sie ihn haben" sage ich
kurz und ignoriere sie von nun an. Ich sehe in das leere Zimmer. Fast zwei Jahre habe ich
hier gewohnt. Ich denke an den ersten Tag. Wie ich von der Burghalde hier her kam. Die
erste Nacht in dieser fremden Umgebung. Es war ganz okay hier, aber es war nicht mein
Zuhause.
Ich fahre zu Birgit und Mark und stelle meinen Krempel bei ihnen unter und schlafe
auch dort. Peter will mit nach Berlin, hat aber erst ab dem 11. Mai Urlaub. Also warte
ich. Mark und Birgit kenne ich aus dem Ritterkeller. Sie sind schon eine Ewigkeit zusammen
und verhalten sich manchmal wie ein altes Ehepaar. Aber ganz nett. Wenn sie morgens durch
die Wohnung hetzen, weil sie irgend etwas suchen, kann ich mir ein Grinsen nicht
verkneifen. "Ja, lach du nur" grinst Birgit im Vorbeigehen. Ihr Freund Mark
steht längst an der Türe und motzt die ganze Zeit herum. "Wo bleibst du denn
..." Dann stehe ich langsam auf, frühstücke und ziehe mich an.
Ich gehe zur Friedhofsverwaltung. "Ich möchte das Grab meiner Mutter auflösen.
Ich ziehe weg von hier und habe niemand, der sich um das Grab kümmert." Der Beamte
holt die Unterlagen. "Sie müssen den Grabstein entfernen. Sie können ihn auch
sozial Schwachen überlassen, dann nehmen wir ihn vom Grab." Ich nicke nur und komme
mir gemein vor. Ich muß nicht zum Grab meiner Mutter, um an sie zu denken.
Am 11. Mai 1989 fahre ich zu Peter. "Fertig?" rufe ich nach oben. "Ja,
gleich." Peter kommt mit einer Tasche über den Schultern herunter. Wir steigen ein
und fahren auf dem Stadtring über den Berliner Platz Richtung Autobahn. Auf dem
Mittelstreifen ist ein Bär auf einem Sockel. Darunter ist eine Tafel angebracht: ,Berlin
650 km "Berlin ich komme" schreie ich hinaus und "Tschüs
Kempten." Das gelbe Ortsschild mit dem roten Balken fliegt an mir vorbei. Tschüs
Kempten.
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