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Zu Hause ist wo anders - 10 Jahre

 

 

Sommerferien

Kempten, den 9.8.76
Lieber Stefan.

Wir haben heute deine Karte erhalten und haben uns sehr gefreut. Es ist schön, daß es dir gut geht, und hoffen auch, daß es dir gefällt und kein Heimweh hast. Wie ich mir denken kann ist es sicher sehr schön mit mehreren Kindern zusammen zu sein. Da könnt ihr schöne Spiele machen und auch sonst viel miteinander unternehmen. Andreas sitzt bei mir und redet. Er hat schon Zeitlang nach dir. Wie du weggefahren bist, hat er furchtbar weinen müssen. Hast du schon weinen müssen, doch etwa nicht, wo du doch bei so vielen Kindern bist. Lasse es dir gut gehen und komme gesund wieder nach Hause. Sage dem Fräulein, daß wir alleine sind ohne Vater, also die Post an Martha S. adressieren. Es grüßt dich recht herzlich und viele Küsse deine Mama mit Andreas.


Kempten, den 13.8.76
Lieber Stefan!

Heute waren wir ganz überrascht, daß gleich eine Karte und ein Brief von dir angekommen ist. Da haben wir uns aber riesig gefreut. Wir waren nämlich heute beim Schnackele und da haben wir auch die Karte gelesen, die du deinem Schnackele geschrieben hast. Du schreibst aber sehr viele Fehler, das hast du ja Zuhause nicht gemacht, oder eilt es so beim Schreiben. Andreas spricht sehr viel von dir. Du fehlst ihm sehr, aber er fährt ja am Freitag auch in Ferien, dann bin ich ganz alleine. Es freut uns, daß es dir gefällt und du Freunde findest. Wer liest dir denn die Briefe von mir vor, oder kannst du sie selbst lesen? Sei nun recht innig gegrüßt und geküßt von deiner Mama und Andreas.


Kempten, den 16.8.76
Lieber Stefan!

Deine Karte ist heute angekommen, herzlichen Dank. Du bist aber sehr fleißig mit schreiben, dürft ihr denn schreiben wann ihr wollt? Ich bin jetzt öfter beim Arzt gewesen und da mußte Andreas immer mit. Aber am Freitag fährt er ja auch in Ferien und ich gehe, wie du ja weißt, ins Krankenhaus am Montag, den 23.8.76, du kannst aber nach Hause schreiben, man bringt mir die Post ins Krankenhaus. Dir lieber Stefan wünsche ich, daß es dir gefällt und daß du viel Spaß hast. Wir waren am Samstag am Wochenmarkt und Sonntag sind wir etwas spazieren gegangen, sonst sind wir immer Zuhause. Es freut mich, daß du anscheinend sehr lustig bist und das ist wirklich schön, daß du auch Freunde hast. Dir wird sicher der Tag schnell vergehen und abends bist du sicher recht müde vom vielen Spielen. Es grüßt dich recht herzlich Deine Mama. Extra Grüße von Andreas.


Kempten, den 25.8.76
Lieber Stefan.

Bin ab Montag hier im Krankenhaus und es geht mir ganz gut. Was machst du immer, und wie gefällt es dir? Ich bin vielleicht schon zu Hause wenn du kommst, das wäre doch schön. Lasse es dir weiterhin gut gehen und schreibe wieder einmal. Es grüßt und küßt dich deine Mama.


Memmingen, 31.8.76
Lieber Stefan!

Will dir einige Zeilen schreiben. Mir geht es soweit ganz gut, bin bloß nicht mehr in Kempten, sondern in Memmingen, aber das macht nichts. Wenn ihr wieder in Kempten seid, fährt Frau Langer mit euch zu mir. Sei du lieber Stefan brav und lasse es dir gut gehen, ich werde auch bald Zuhause sein. Hauptsache du hast dich gut erholt, wenn Andreas auch nach Kempten kommt seid ihr ja zusammen bis ich wieder komme. Ihr seid ja schon sehr vernünftig. Es grüßt dich recht herzlich deine Mama.


Memmingen, 3.9.76
Lieber Stefan

Deinen Brief habe ich erhalten und mich sehr gefreut. Dir scheint es ja besonders gut zu gefallen, oder nicht? In 10 Tagen kommst du ja wieder nach Hause. Ich hoffe, daß ich auch bald wieder gesund bin, daß wir drei wieder zusammen sind. Sei du nur recht brav und anständig, daß ich keine Klagen hören muß. Der Andreas schreibt sehr oft, er hat anscheinend doch Heimweh. Sonst schreibt Andreas, es geht ihm gut. Sei nun recht herzlich gegrüßt und geküßt von deiner Mama.


Montag, der 13.

Als der Zug in Kempten eintrifft, warten Andreas und Frau Langer schon auf mich. Schnackele erdrückt mich fast. Andreas erzählt mir sprudelnd von seinen Ferien. Fragt mich über meine Ferien aus. Wir lachen nicht. Frau Langer fährt mit uns nach Memmingen. Ins Krankenhaus. Zur Mama. Sie umarmt uns, küßt uns, lächelt. Alles wirkt so unwirklich. Wir drei sind nicht wirklich zusammen. Das Zimmer, die fremden Leute, der Geruch. Das ist nicht unser Zuhause. "Wir müssen langsam los, es ist schon spät." Frau Langer schiebt uns aus dem Zimmer. "Mama!" Ich drehe mich um. Mama. Sie sieht mich traurig an. Ich weine und will zurück. Aber Frau Langer nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her.

Wo fahren wir hin? Es ist schon dunkel und ich weiß nicht wo ich bin. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Wo fahren wir hin? Vor einem rot-grauen Betonklotz steigen wir aus. Es ist noch warm draußen. Eine Person in schwarzer Kleidung und einem schwarzen langen Tuch auf dem Kopf öffnet eine große braune Türe. "Ah, da sind sie ja. Ich bin Schwester Anni." Wir werden nach innen geschoben "wir besuchen euch bald" und schon ist die Türe hinter uns zu. Abgeschlossen.

Durch ein hohes Treppenhaus mit Marmorstufen gehen wir in den zweiten Stock. Eine schwere Holztüre wird aufgeschlossen und wir kommen in einen großen weiten Raum mit Holzwänden. "Das ist die Diele, der Spielraum. Habt ihr noch Hunger?" Wir werden in die Küche geführt und setzen uns an einen großen Tisch. Es gibt Brote mit einem Hauch von Nuß-Nougat-Creme darauf. Das Brot ist trocken und der Tee schmeckt mir nicht.

Die zwei Neuen

"Das sind die zwei Neuen", sagt die Schwester zu zwei Jungen. Sie schauen uns einen Augenblick an. "Hallo." Und sind schon wieder mit sich selbst beschäftigt. "Das ist Walter und das ist Roland. Ihr teilt euch dieses Zimmer."

Wir stehen in einem Zimmer. Vier Betten. Weißes Bettzeug. Weiße Wände. Kein Bild. Nur ein Kreuz über der Zimmertüre. Grelle Neonröhren. Kreischbunt gestreifter Teppich. Ich stehe da wie gelähmt und starre in dieses Zimmer. Die Neonröhren blenden. Mir tun die Augen weh.

Vor dem Schlafzimmer sind die Schränke. "Das ist Deiner" sagt sie zu Andreas "und das ist Deiner" und zeigt mir meinen Schrank. Alle meine Anziehsachen sind da drin. Und mein Schulranzen. Was bedeutet das?

Ich liege in einem dieser weißen Betten. Die Schwester kommt. Ich will einen Gute-Nacht-Kuß. Sie runzelt die Stirn. "Habe ich von meiner Mama auch immer bekommen." Ich spüre etwas fremdes auf meinen Lippen. Ich verstehe nicht. Es war doch auch ein Gute-Nacht-Kuß. Sie macht das Licht aus. Es ist dunkel und ich fange an zu weinen.

Am nächsten Morgen sind alle im Wohnzimmer vor dem Kreuz versammelt. Vor dem Frühstück wird gebetet. "Ihr habt doch daheim auch immer gebetet, oder?" "Nein." "Aber ihr seid doch jeden Sonntag in die Kirche gegangen?" "Nur einmal, aber das war so langweilig." Die Schwester starrt uns an wie Aussätzige. Das Morgengebet.

Danach gehen wir geschlossen in die Küche. Jeder hat seinen Platz. Am ersten und am zweiten Tisch sitzen immer fünf. Am dritten Tisch sitzt niemand. Nur wir. Die Schwester verteilt die Brötchen und den Kakao. Die Brötchen sind frisch aber der Kakao schmeckt komisch. Nach dem Frühstück müssen wir noch mal beten. Diesmal bleiben wir in der Küche.

Die Schule fängt heute wieder an. Ich gehe in meine alte Schule. Die Flure, die hellen Räume, die nette Lehrerin. Etwas Vertrautes.

Nach der Schule gehe ich zurück ins Heim. Beten. Mittagessen. Beten. Ich gehe in die Diele und sehe Manu mit Bauklötzern spielen. Aber, das ... das sind doch meine Bauklötzer. Ich setze mich zu ihr und spiele abwesend mit.

Ich liege wieder in diesem weißen Bett. Heute will ich keinen Gute-Nacht-Kuß. Ich rolle mich unter der Bettdecke zusammen und weine wieder.

Nach zwei Tagen frage ich nicht mehr. Jeder Tag ist gleich: Aufstehen. Waschen. Beten. Frühstück. Beten. Schule. Beten. Mittagessen. Beten. Hausaufgaben. Spielen. Beten. Abendessen. Beten. Spielen. Beten. Bett. Am Samstag entfällt nur die Schule.

Nur sonntags ist alles anders. Vormittags müssen wir in die Kirche. Nach dem Mittagessen holen uns unsere Verwandten abwechselnd im Heim ab und fahren uns zu unserer Mama. Sie gibt mir einen Zehnmarkschein: "Hier hast du das Geld für die Schulmilch." Ich nehme es und stecke es ein. "Danke." Mama liegt im Bett und verzerrt oft das Gesicht wenn sie sich bewegt. Wenn sie in meine Augen schaut, lächelt sie. Aber sie sieht traurig aus. Ihre Uhr liegt auf dem Nachtkästchen. Ich fühle mich schuldig. Darf ich die zehn Mark nehmen? Irgend etwas stimmt nicht.

Ausflug in die Wirklichkeit

"Nächsten Samstag dürft ihr zu Eurer Mutter nach Hause" verkündet uns Schwester Anni. Nach Hause? Es ist ein wolkenverhangener Samstag im November. Ab und zu regnet es ein bißchen. Die Wohnung ist leer, dunkel und aufgeräumt. Aber Mama ist da. Wir sitzen in der Küche und essen Kuchen und trinken Kakao. Andreas redet mit Mama. Ich höre kaum zu. Will draußen spielen. Es ist kalt und ich bin der einzige, der draußen spielt. Aber es ist wie früher. Mama ist zu Hause und ich spiele allein.

Wenn ich spiele bin ich alles. Rennfahrer, Cowboy und Indianer, Bauer, Doktor, "Stefan!", Gärtner, Bienenzüchter, Postbeamter, Räuber und Polizist, "Stefan!", aber vor allem bin ich Busfahrer. "Stefan!" "Ja?" Meine Mama winkt mir zu. Ich soll herein kommen. "Es wird langsam Zeit, ihr müßt zurück ins Heim." "Ich will aber nicht!" Mein Bauch zieht sich zusammen. Sie nimmt mich sanft in den Arm: "Ich werde bald wieder gesund sein. Dann sind wir drei wieder zusammen." Andreas und ich gehen langsam den Kiesweg vor zur Straße. Ich drehe mich um. Immer wieder. Sie winkt. Ich auch. Ich weine. Andreas auch.

Unsere Mama ist nur wenige Tage zu Hause. Nächsten Sonntag fahren wir schon wieder ins Krankenhaus. Das Krankenhaus mit seinen langen Fluren und den vielen Türen, das kleine Zimmer. Sie liegt im Bett und gibt uns beiden einen Kuß. Sie lächelt. Wie siehst du aus, Mama? Ihr Gesicht ist fast weiß. Kein Lippenstift. Die Haare hängen herunter. Kein Spray hält sie nach oben. Mit glasigen Augen sieht sie mich an. Irgend etwas sticht mich innen und ich fange an zu weinen. Frau Alers, eine Nachbarin, zieht uns auf den Flur: "Eure Mutter ist schwer krank. Ihr dürft jetzt nicht weinen, damit sich eure Mutter keine Sorgen um euch machen muß. Habt ihr das verstanden?" Wir nicken und gehen zurück ins Zimmer. Ich sehe kaum noch was. Und weine trotzdem.

Einmal in der Woche ist Singstunde. Wenn wir nicht mitsingen und herumalbern zieht uns irgendeine Schwester am Ohr. "Das ist dein Bruder Armin" sagt Schwester Beatrix mir. Ich sehe einen großen Jungen. Aber ich kenne ihn nicht. Mein Bruder? Aber er war doch nicht bei uns zu Hause. "Sie kann mich nicht leiden." Ich sehe ihn an. Nein, das glaube ich nicht.

Weihnachten sind wir im Heim. Aber es ist nicht wie bei Mama. Wir müssen Weihnachtslieder singen. Die Schwestern freuen sich. Ich mag nicht singen.

Fünf vor sieben

"Die zwei Sträucher sollen mal zur Mutter Oberin herunterkommen!" Wir gehen schweigend hinunter und klopfen an der Bürotüre. Sie öffnet uns, sieht uns aber nicht an. Wir stehen da und schauen vor uns hin. Leise beginnt die Schwester zu reden: "Heute früh um fünf vor sieben ist eure Mutter gestorben."

Tränen schießen in meine Augen, laufen die Wangen herunter und versickern dann in meiner Kleidung. Heute früh um fünf vor sieben ist eure Mutter gestorben. Nein. Mama, Mama, wo bist du? Wir drei. Was? Wieder zusammen. Gestorben? Zu Hause. Mama? Tot? Die Schwester sieht uns an und preßt die Lippen aufeinander. Sie geht zur Tür, öffnet sie und läßt uns hinaus.

Schwester Anni und die anderen Kinder schauen uns an. Niemand sagt ein Wort. Wir gehen lautlos ins Schlafzimmer. "Genau um fünf vor sieben habe ich heute früh auf die Uhr geschaut." sagt Andreas zu mir. "Ich hatte irgendwie ein komisches Gefühl heute früh." Andreas redet und redet. Ich liege still im Bett und weine. Mein Bruder streichelt mir den Rücken. Er spricht. Leise. Aber ich höre nicht zu.

Zwei Tage später. Es ist Anfang Januar und die Kälte sticht in mein Gesicht. Wir sitzen in einer Halle vor dem Friedhof. Ein Pfarrer redet. "Martha Strauch hat drei minderjährige Söhne hinterlassen." Ich sehe zu dem Sarg. Da drin soll Mama sein? Eine Glocke beginnt monoton zu schlagen. Ich gehe hinter dem Sarg. Als ob ich mit ihm durch ein Band verbunden wäre, zieht er mich hinter sich her. Ich starre ihn an. Die Blumen darauf wackeln sanft hin und her. Langsam rollt der Sarg über den Friedhof. Der Weg ist endlos. Irgendwann sind wir am Grab angekommen. Ein Pfarrer redet. Ich höre nicht zu. Sechs Männer lassen den Sarg langsam nach unten. "Erde zu Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub." Der Pfarrer wirft etwas Erde auf den Sarg. Ich stehe vor dem tiefen Loch. Rote Blumen sind auf dem Sarg. "Du mußt auch etwas Erde hinein werfen." flüstert eine Stimme von der Seite. Ich tue es und stelle mich neben meine große Cousine. Angelika verteilt die Sterbebildchen. Ich sehe nur den braunen Matsch um das Grab herum. Kränze mit bunten Fahnen. ,Deine Schwester Thea mit Familie’ und ,Deine Eltern’ kann ich erkennen. Jeder wirft etwas Erde in das Loch, holt sich ein Sterbebildchen und geht wieder an seinen Platz zurück. Ich sehe Schwester Anni und ein paar Kinder aus meiner Gruppe. Warum sind sie hier? Sie schauen stumm herüber. Ich lese wieder den Text auf dem Sterbebildchen.

Dein langes Leiden hat ein Ende,

Erlöst bist du von deiner Qual.

Wir drücken deine teuren Hände

Auf dieser Welt zum letztenmal.

Mögst du als Lohn am Sternenthrone

Empfangen heut die Dulderkrone.

Was heißt das? Ich verstehe den Text nicht. Ich sehe auf das Bild. Meine Mama lächelt mich liebevoll an. Wo bist du? Du kommst nie wieder zurück? Nie wieder? Tränen laufen herunter. Der Pfarrer und die Ministranten gehen. Einige Leute folgen ihnen. Wir gehen auch.

Wir fahren zu einem Restaurant. Leichenschmaus haben sie gesagt. Alle essen Kuchen und trinken Kaffee, die Kinder Kakao. Alle reden durcheinander, erzählen Witze und lachen. Aber niemand redet mit mir. Wenn sie in meine Augen schauen, verschwindet für einen Moment ihr Lachen. Warum lachen sie? "Spielst du mit mir Fangen?" fragt mich meine jüngere Cousine Birgit. Ich nicke und laufe hinter ihr her.

Die 4. Gruppe

"Aufstehen!" Eine fremde Stimme. Grelles Licht blendet mir die Augen. Was? Ach ja. Schwester Anni. Die Bettdecke wird mir weggezogen. "Steh’ endlich auf!" Und weg ist sie wieder.

Ich trotte in den Waschraum. Neonröhren, überall Neonröhren. Rostbraune, kalte Fliesen auf dem Boden, weiße an den Wänden bis zur Decke. 3 Waschbecken auf dieser Seite. Drei auf der anderen Seite hinter der gelben Schiebetür. Die Schiebetür ist immer verschlossen. Zwei oder drei Kinder teilen sich ein Waschbecken. Andreas und ich haben ein eigenes. An der Wand eine Reihe von Haken. Zwei Waschlappen und zwei Handtücher. Hell für oben, dunkel für unten. "Los, zum Morgengebet!" Ich beeile mich und stelle mich in den Halbkreis vor dem Kreuz.

Schwester Anni betet mit geschlossenen Augen. Sie ist viel jünger als meine Mama. Sie ist noch gar keine richtige Schwester, macht aber alles genauso wie die anderen. Sie betet mit uns und nimmt uns mit in die Kirche. Frühstück. "Hast du alles?" fragt mich Schwester Anni. Ich nicke und gehe hinunter ins Erdgeschoß zu den Garderoben. Wo sind meine Schuhe? Unter der flachen Sitzbank suche ich jeden Tag aufs Neue meine Schuhe. Sind sie doch im Fach? Die Fächer sehen aus wie alte Hasenställe mit Holztüren ohne Gitter. Wo ist meine Jacke? Endlich finde ich sie an einem der endlosen Haken und gehe los. In meine Schule geht sonst kein Heimkind. Sie ist zu weit weg.

"Mittagessen" tönt es durch Diele und Wohnzimmer. Alle rennen in die Küche. Aufstellen zum Beten. Wie immer. "Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne was du uns bescheret hast, Amen." Am Mittwoch beschert er uns meistens Pfannkuchen. Fräulein Resi teilt das Essen aus. Ich mag Fräulein Resi nicht. Sie ist so streng. Wenn ich nicht folge, schreit sie mich an. Oder ich bekomme eine Ohrfeige. Schwester Anni schreit nie. Von ihr bekomme ich nur Ohrfeigen. Ich muß folgen. Fräulein Erika ist nett. Sie spielt mit uns und lacht auch wenn wir herumtoben.

Nach dem Essen müssen alle ihre Hausaufgaben machen. Schwester Anni oder Fräulein Resi kontrolliert sie dann und wer fertig ist, muß sich umziehen und darf in den Hof oder in die Diele zum Spielen.


Manchmal spiele ich mit Manfred und Peter. Oder mit Andreas. Meistens spiele ich allein. Mit den Kindern aus den anderen drei Gruppen spiele ich nie.

Im Hof sehe ich ab und zu die Küchenschwester im Gemüsegarten oder die Waschschwester beim Wäsche aufhängen. Mutter Oberin sehe ich immer nur dann, wenn wir im Hausgang herum schreien. Dann kommt sie aus ihrem Büro mit einem kleinen Besen und versucht uns zu fangen. "Nein, nein, nein, das gibt es nicht. Ich bin die Mutter Oberin." Wenn sie uns fängt, klopft sie mit dem kleinen Besen auf den Hintern. Aber es tut nicht weh. "Ihr Lausbuben" lacht sie dann und läßt uns wieder laufen. Und dann gibt es noch die alte Schwester Huberta. Sie betet nur.

"Hast du die Schuhe versteckt?" "Nein!" "Lüge mich nicht an!" Schwester Anni zieht mich am Ohr aus der Küche. "Man sieht es dir ja schon an, daß du es warst" sagt Fräulein Resi als ich an ihr vorbeigezerrt werde. Schwester Anni rennt fast mit mir in die Garderobe. "Ich war es nicht." Aber sie hört mich nicht. "Du bleibst hier solange sitzen, bis du die Schuhe wieder zurück gestellt hast!" Ich weine und stammle "Warum sollte ich von jemand anderen die Schuhe verstecken?" "Dir ist doch alles zuzutrauen.!" Schwester Anni verschwindet. Ich sitze in der Garderobe und weiß nicht was ich machen soll. Ich fange an zu suchen, aber ich finde die Schuhe nicht. Ein großes Mädchen aus der dritten Gruppe sieht mich. "Was ist denn mit dir los?" fragt sie besorgt und ich erzähle ihr, was passiert ist. "Ich habe die Schuhe nicht versteckt! Warum sollte ich auch?" Den ganzen Nachmittag sitze ich in der Garderobe und warte. Abends holt mich Schwester Anni und schickt mich ohne Abendessen ins Bett.

Am Sonntag stehen wir später auf und müssen uns trotzdem beeilen. Morgengebet. Frühstück. Etwas ähnliches wie Kuchen und dieser widerliche Kakao. Um neun gehen alle in die Kirche. Der Pfarrer redet und redet; und die Leute singen falsch. Zum Mittagessen gibt es am Sonntag immer Nachtisch. Meistens den gleichen Pudding.

Jeden zweiten Sonntag werden wir von unseren Verwandten abgeholt. Gleich nach dem Essen gehen Andreas und ich runter zur Einfahrt und warten. Tante Thea und Onkel Hubert kommen immer zu spät. Es gibt richtigen Kuchen und richtigen Kakao. Ich bin neidisch auf meine Cousins und Cousinen. Sie haben eine Familie. Abends müssen wir immer wieder zurück ins Heim.

Am anderen Wochenende gehe ich allein zu meiner Oma. Sie ist die Mutter meines Vaters. Andreas hat einen anderen. Bei ihr muß ich auch in die Kirche. In die neuapostolische. Die Priester reden auch viel, aber die Leute singen besser. Meine Oma singt im Chor. Sie betet auch vor jedem Essen. Aber immer ein anderes Gebet. Wir knien am Boden und sie betet laut. Ich bin erstaunt, was ihr immer einfällt. Wenn das Wetter schön ist, gehen wir viel spazieren oder fahren in die Berge zum Wandern.

"Heute gehen wir zu deinem Vater" sagt meine Oma am Heiligen Abend. Wir ziehen uns an und stapfen durch den Schnee die steile Treppe in die Altstadt hinunter. "Gleich sind wir da!" Ich bin total aufgeregt. Mein Vater. Ich weiß nicht mehr wann ich ihn das letzte mal gesehen habe. Aber jetzt sehe ich ihn gleich. Dann feiern wir Weihnachten.

Wir biegen um die Ecke "Da vorn ist es." Ich kann es kaum erwarten. Meine Oma klingelt. Die Türe summt. Wir gehen in den Hausgang und bleiben stehen. Gleich vor uns ist die Wohnungstür. Eine Frau öffnet und verschwindet gleich wieder. Eine Türe quietscht. "Horst, Deine Mutter ist da" höre ich die Frau in ein Zimmer sagen. Kurz darauf steht er in der Türe. Mein Vater! "Hallo Mutter" Er zögert. "Du, das ist jetzt schlecht, wir haben Besuch." Pause. "Es ist eine Schande, nicht mal an Weihnachten hast du Zeit für deinen Sohn" sagt meine Oma, dreht sich um und zieht mich hinter sich her. Mir schießen Tränen in die Augen und verstehe gar nichts.

Die neue Schule

,Der anständige Schüler hat in seinen Leistungen nachgelassen. Er arbeitet flüchtig und ohne Ausdauer.’ Mein Zwischenzeugnis der 2. Klasse war nicht besonders und das Jahreszeugnis ist auch nicht viel besser: ,Aufmerksamkeit und Mitarbeit des ordentlichen Schülers konnten befriedigen. Wenig Fleiß und Ausdauer zeigte er in der Fertigstellung seiner schriftlichen Arbeiten.’ Aber niemand sagt etwas.

Nach den Sommerferien komme ich in eine andere Schule. "Die neue Schule ist näher am Heim, alle Heimkinder gehen bis zur vierten dort hin" erklärt mir Schwester Anni. Die neue Schule ist in einem alten Haus. Breite, geschwungene Holztreppen führen nach oben. Die Klassenzimmer haben Holzböden und wenn jemand darauf geht, knarrt es. In der neuen Klasse sind mir fast alle fremd. Außer Manfred.

Ich finde keine neuen Freunde. Nach der Schule müssen wir immer sofort zurück ins Heim. Meine Freunde aus der alten Schule sind verschwunden, einfach weg. Dafür bewundere ich einen Jungen in meiner Klasse. Thomas. Er ist blond, hat blaue Augen und macht immer Witze. Ich wäre gern sein Freund.

Der Lehrer hat lange Haare und einen Bart. Am Wandertag gehe ich meistens neben ihm. Er erzählt tolle Geschichten und lacht viel. Im Unterricht schaue ich ihn manchmal einfach nur an. Er ist nie richtig böse. Wenn ich nicht aufpasse, schaut er grimmig. Aber das sieht aus wie eine Grimasse. Ich muß aufpassen, daß ich nicht lache. Ich mag ihn.

Ein paar Wochen vor Weihnachten müssen wir ein Krippenspiel einüben. Für die Weihnachtsfeier. Am ersten Tag kommt der Oberbürgermeister. Und die Leute vom Jugendamt. Der Oberbürgermeister hält eine Rede. Mir ist langweilig. Mein Lehrer ist auch da. Der zweite Tag ist für die Eltern der Kinder. Meine Oma ist gekommen und bringt mir Skier mit. "Die sind von deinem Vater! In den Ferien geht er mit dir zum Skifahren!". Ich bin die ganzen Ferien im Heim. Schlitten fahren von dem kleinen Hügel im Hof.

Schwester Concilia

In den Sommerferien müssen wir alle ins Höfle. Das Ferienhaus des Heims liegt auf einem Berg. Unten ist ein Bauernhof, bei dem wir Milch holen gehen. Es gibt hier nur zwei Schlafsäle. Einen für Jungen und einen für Mädchen. Und Stockbetten. Schrecklich. Abends im Bett flüstern wir immer noch. Bis die Großen kommen. Einmal müssen wir auf den Stoffelberg. Wandern.

Schwester Anni muß zurück ins Mutterhaus nach München. Um eine richtige Schwester zu werden. Sie geht und es tut mir nicht leid. Zum Glück geht Fräulein Resi gleich mit.

Die neue Schwester ist alt. Sie ist netter als Schwester Anni, vor allem wenn ihre Eltern da sind. Sie backt viel Kuchen und macht Schlagsahne dazu. Und echten Kakao.

Bei ihr fühle ich mich ein bißchen wohler, obwohl sie mir hin und wieder eine Ohrfeige gibt und mich dann ins Schlafzimmer schickt. Nach einer halben Stunde holt sie mich dann wieder und alles ist vergessen. Für sie.

Manfred und ich haben Küchendienst. "Wenn man ins Klo tauchen könnte, dann würde man so zwischen der ganzen Scheiße schwimmen bis man dann in der Kläranlage wieder nach draußen käme. Wie die Klamotten dann stinken würden." Ich lache über meine eigenen Worte. Manfred grinst. Ich lasse mich weiter über die Schwimmroute aus und lache noch mehr. Manfred grinst nicht mehr und schaut an mir vorbei. Ich drehe mich um und hinter mir steht Schwester Concilia. Ich laufe rot an und warte schon auf eine Ohrfeige. "Komm, red’ weiter, mich interessiert das!" Aber ich schäme mich und rede nicht weiter. Endlich grinst sie nur und schüttelt weggehend den Kopf.

Die dritte Schwester und ein kleiner Bruder

Wir sind im Wald und machen eine Tannenzapfenschlacht. Hier im Höfle lassen uns die Schwestern wenigstens ungestört toben. "Die neue ist da" ruft einer. Ich renne den Berg hinunter und nähere mich dann langsam dem Haus.

Ist die dick, denke ich und stehe unbeholfen vor ihr. Sie liegt in einem Liegestuhl. Sie grinst und schaut mich durch ihre Riesenbrille an. Ich sage nichts. "Ich bin Schwester Edeltraud." Pause. "Und wer bist du?" "Ich bin der Stefan." Sie nickt. "Ich bin deine neue Gruppenschwester." "Ja, ich weiß." Sie fragt mich über die Schule aus. Endlich kann ich wieder gehen.

Schwester Edeltraud ist etwas moderner eingestellt. Das neue Fräulein Sieglinde auch. Endlich müssen wir keine braungrünroten Strickpullover und lila oder braune Cordhosen mehr anziehen. "So etwas zieht doch keiner mehr an." Sie räumt die alten Sachen weg und besorgt uns Jeans und T-Shirts. Jetzt falle ich in der Schule wenigstens nicht mehr auf.

"Wir haben ein Baby bekommen" sagt Sieglinde als ich von der Schule zurück komme. Dieter ist acht Wochen alt und sehr dünn. "Seine Mutter ließ ihn fast verhungern. Er kommt gerade aus dem Krankenhaus."


Dieter wächst schnell. Er hat hellblonde Haare und leuchtend blaue Augen. Er ist der Mittelpunkt in unserer Gruppe. Ich darf ihn mit der Flasche füttern und wickeln. Wenn ich Dieter nachts schreien höre, stehe ich auf und mache ihm eine Flasche. Ich setze ihn auf die Arbeitsfläche in der Küche und er sieht mir ungeduldig beim Flasche machen zu. Dann bringe ich ihn zurück ins Bett und warte, bis er wieder schläft. Dieter hängt an mir. Und ich an ihm.

"Dieter ist heute das erstemal gelaufen!" erzählt Sieglinde beim Mittagessen. Alle sind in der Diele versammelt und warten auf den großen Auftritt. Erst sind es nur kurze Strecken und er fällt mir fast in die Arme. "Befa, Dieda laufe" lacht er mich an. Mit der Zeit geht es besser und schon bald rennt er alleine durch die Gegend. Er quietscht, wenn er mit dem Ball durch die Diele tobt. "Ball."

"Morgen fahren wir ins Höfle." Schwester Edeltraud kann es kaum noch erwarten. Wandern. Spazieren gehen. Grillen. Lagerfeuer. Mir graut schon davor. Ich will nicht mehr ins Höfle. "Kann ich nicht hier bleiben?" Ich kenne die Antwort. "Glaubst du wirklich, daß wir dich mit deinen elf Jahren hier alleine lassen?" Ich mag keine kurzen Hosen, zerrissene T-Shirts und Sandalen mehr anziehen. Mir ist langweilig. Ich mache nichts mit. Nur bei Wanderungen muß ich mitgehen. Sonst habe ich meine Ruhe.. Wenn ich das mache, was die Schwestern wollen. Die meiste Zeit verbringe ich allein im Wald oder gehe mit Dieter spazieren. Edeltraud läßt mich mit ihm alleine spazieren gehen. Wenigstens etwas. Die anderen bauen Hütten und machen wilde Abenteuerspiele. "Die nächsten zwei sind dran!" Schwester Angelita von der dritten Gruppe ist die Badeschwester im Höfle. In eine alte Blechwanne gießt sie heißes Wasser vom Kohleofen und läßt kaltes aus dem Wasserhahn nachlaufen. "Los, rein mit euch." Aber ich will nicht. Das Baden ging hier immer ziemlich schnell. Manfred und ich saßen in der Wanne und spritzten umher. Noch kurz den Rücken abgeschrubbt und schon ging es wieder nach draußen. Ich weigere mich und flüchte in den Wald. Abends sitzen wir oft am Lagerfeuer und die Großen erzählen Gruselgeschichten. Manchmal höre ich zu. Zum Baden hat Edeltraud nichts mehr gesagt. Ich dusche jetzt allein im Keller.

Walter

"Schläfst du schon?" "Hm?" "Los wir gehen durch den Waschraum und lassen unsere Z****l raushängen." "Was?" Walter und Andreas stehen neben meinem Bett und warten. "Komm schon!" "Und wenn wir erwischt werden?" "Wir sind ganz leise und dann ziehen wir eben unsere Hosen wieder hoch." Ich steige benommen aus dem Bett. "Aber ..." "Los!" Walter ist groß und ich muß folgen. Er hat mir schon öfter eine geknallt. Die beiden gehen los und im Schrankraum holen sie ihre Z****l heraus. "Du auch!" Sie gehen Richtung Waschraum und ich trotte halb verschlafen hinterher. Mir ist mulmig im Bauch. Es ist etwas verbotenes. Wir laufen durch den Waschraum und kommen wieder in den Schrankraum zurück. "Noch mal" flüstert Walter und geht los. Andreas hinterher. Ich auch. Dann renne ich zurück in mein Bett. "Angsthase" höre ich noch und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf.

"Ich muß dir was zeigen." Walter sitzt an meinem Bett und weckt mich. "Laß’ mal sehen." "Was?" "Laß’ deinen Z****l mal sehen!" "Nein!" "Los, mach’ schon!" "Was ist wenn jemand kommt?" "Die sitzen alle vor der Glotze." Er faßt in meine Hose und fängt an zu reiben. "Nein!" Er reibt immer schneller. "Mach’s bei mir auch!" Er nimmt meine Hand und drückt sie an seinen. "Nein!" Er umfaßt meine Hand reibt damit an sich selbst. Nach wenigen Minuten kommt etwas weißliches bei ihm vorne raus. Es klebt und riecht komisch. Er stöhnt und gibt mir einen Zungenkuß. Mir wird übel. Er reibt bei mir weiter. Es kitzelt in meinem Bauch. Etwas durchsichtige Flüssigkeit kommt bei mir zum Vorschein. Ich zucke kurz und Walter verschwindet. Ich liege wach im Bett. Ich zittere. Was war das? Ich rolle mich zusammen und weine. Mama, warum bist du nicht da? Irgendwann schlafe ich ein.

Verschlafen steige ich aus meinem Bett. "Zu keinem ein Wort!" zischt Walter im vorbeigehen. Ich schrecke hoch. Es war kein Alptraum. Ich weiche ihm aus.

Besuch

"Du spinnst wohl" schreit mich Edeltraud an. Ich habe ihr eben ins Schienbein getreten. "Laß mich doch in Ruhe!" schreie ich zurück. "Na warte, morgen rufe ich deinen Vater an, dann werden wir ja sehen, wer der stärke von uns beiden ist." Sie knallt die Türe hinter sich zu und verschwindet.

Wir sitzen beim Hausaufgaben machen im Wohnzimmer. Edeltraud schaut mich nicht an. Das Telefon klingelt und ich werde zur Mutter Oberin bestellt. Ich gehe nach unten und klopfe an ihrem Büro an. Sie öffnet. Mein Vater sitzt auf der Couch und sagt nichts. "Ich habe ein ernsthaftes Wort mit deinem Vater reden müssen. So geht es nicht weiter. Du kannst nicht der Schwester Edeltraud gegen das Schienbein treten." Ich schweige. "Wenn du so weiter machst, kommst du in ein Erziehungsheim!" Ich sehe Gitterstäbe vor mir und bekomme Angst. "Du wirst dich bei Schwester Edeltraud entschuldigen, verstanden?" Ich nicke nur. "Es war schön, sie kennen zu lernen" sagt sie zu meinem Vater und schiebt uns aus ihrem Büro. "Komm, wir gehen Kaffee-Trinken. Die Mutter Oberin weiß Bescheid." Ich sitze neben meinem Vater im Auto und schweige. "Das war ja schon ein bißchen viel." Mein Vater grinst mich an und zieht eine Grimasse. Ich kann nicht anders und muß lachen. "Die reden viel, wenn der Tag lang ist. Laß’ dich nicht unterkriegen." Ich nicke und wir fahren los. "Was die da sagen, interessiert mich eigentlich gar nicht." Mein Vater hält zu mir. Irgendwann werde ich bei ihm wohnen und dann können mich die Schwestern alle mal. Wir gehen ins Oberpaur-Cafe. Mein Vater bestellt sich einen Kaffee und ich eine Cola und einen Kuchen. Er runzelt die Stirn. "Und das soll schmecken?" "Ja." Danach bringt er mich zurück ins Heim.

"Ich will mich entschuldigen." sage ich leise zur Schwester Edeltraud. Sie nickt. "Das war nicht in Ordnung." "Ich weiß, aber warum mußt du mich immer ärgern?" "Ich will dich nicht ärgern, aber an bestimmte Regeln mußt du dich schon halten." Ich nicke. "Friede?" "Friede." Ich bin erleichtert. Kein Erziehungsheim.

"Wir gehen schon mal runter. Wenn du fertig bist, kommst du nach, ja?" Ich nicke Edeltraud zu und beeile mich. "Die anderen sind im Hof." Walter steht im Wohnzimmer. "Ich soll auch gleich hinunter kommen" sage ich schnell. "Komm’ vorher noch kurz mit ins Zimmer." Er zieht mir das T-Shirt hoch und die Hose runter. Ich bin hilflos und nackt. Er nimmt ihn in den Mund. Ich will nicht daß er steif wird. Es kitzelt wieder in meinem Bauch. "Mach’s bei mir auch!" "Nein!" Walter drückt meinen Kopf zu seinem großen Ding. Ich will nicht. Es riecht eklig. Ich will was sagen, aber er drückt ihn mir in den Mund. Ich würge und bekomme keine Luft mehr. Ich huste und er läßt mich wieder los. Er reibt bei mir und bei sich. Mir ist schlecht. Bei ihm kommt wieder dieses weiße Zeug raus. Bei mir auch. "Jetzt bist du auch groß!" sagt Walter, aber "Psst!, wenn jemand das herausbekommt, kommen wir ins Erziehungsheim!" Erziehungsheim. Karli aus unserer Gruppe kam ins Erziehungsheim. Weil er nie folgte. Von dem Geschmack in meinem Mund ekel ich mich. Ich putze mir die Zähne, aber es hilft nichts. Ich gehe in den Hof. "Spiel doch mit!" "Keine Lust." Ich sitze da und sehe nur zu. Abwesend.

"Schon wieder keine Hausaufgaben? Ich werde der Schwester im Heim schreiben. So geht es nicht weiter." Frau Forster schreit mich an. Mir wird heiß, aber ich sage kein Wort. Muß sie so laut sagen, daß ich im Heim bin? Wieder eine neue Schule. Neue Gesichter. Ein neuer Junge. Marcel. Dunkle Locken, dunkle Augen und ein breites Grinsen. Er ist der Liebling der Mädchen. Meiner auch. Aber das weiß niemand.

,Stefan ist ein höflicher Schüler. Leider wollte er seine Pflichten im 2. Halbjahr nicht mehr wahrhaben. Er hielt es in fast allen Unterrichtsfächern für übrig, seine Hausaufgaben zu machen. Er war in keiner Weise um eine zufriedenstellende Arbeitshaltung bemüht.’ Laut liest Mutter Oberin vor allen anderen mein Zeugnis vor. Ich laufe rot an und schäme mich. Sie ist gemein. Wie jedes Jahr gibt es für gute Zeugnisnoten Geld. Zwei Mark für eine eins, eine für eine zwei. Ich bekomme auch was. Eine Eins in Sport und eine Zwei in Musik. "Nächstes Jahr wird das aber besser!" Ich nicke nur und bin froh, als sie wieder weg ist.

Nach den Sommerferien komme ich in die sechste Klasse. Die gleiche Klasse. Die gleiche Lehrerin. Nur Thomas ist weg. Zur Realschule. Schade.

"Jetzt ist langsam genug. Du machst keine Hausaufgaben und jetzt störst du auch noch pausenlos den Unterricht." Ich schrecke hoch. Frau Forster nimmt meine Sachen und geht zum Gruppentisch ganz vorn. Fünf Mädchen. Ich sitze neben Claudia. Wir sind bald befreundet. Und quatschen pausenlos. Frau Forster ist manchmal ganz schön sauer. Eigentlich mag ich die Lehrerin. Nach dem Unterricht helfe ich ihr aufräumen. Den Kartenständer oder den Kassettenrecorder zurücktragen. "Warum machst du denn deine Hausaufgaben nicht?" Wenn ich mit ihr alleine bin, spricht sie immer ganz ruhig. "Ja, ich, ähm." Ich stammle und schaue verlegen auf den Boden. Ich weiß es nicht.

Für die Prüfung von Frau Forster üben wir ein Theaterstück ein. "Ich stelle fest, der Korb hat Beine." Marcel steigt aus dem Korb und lacht. Frau Forster lacht. Claudia lacht. Alle lachen. Ich würde auch gern lachen. Ich spiele nicht mit. Peter spielt einen Baum und hat meine braune Winterjacke an. Er winkt mir zu und dann hält er ihn hoch. Ein weißer Umschlag. Darauf steht ,An Marion’ und ein großes rotes Herz mit einem Pfeil. Ich erstarre und laufe rot an. Aber Peter hat den Brief schon wieder weggesteckt. Puh, Glück gehabt. Marion aus unserer Klasse hat mir einen Liebesbrief geschrieben. Und ich mußte einen zurück schreiben. Sie hat ihn nie erhalten.

"Ich will noch ein paar Negative entwickeln, also kommt ja nicht in mein Zimmer" sagt Walter beim Abendbrot und fragt mich, ob ich ihm dabei helfe. "Nö, kein Bock." "Mach dich ein bißchen nützlich, Stefan" fordert mich Schwester Edeltraud auf. "Was?" "Komm’ schon" sagt Walter im hinausgehen. "Ich will aber nicht." "Stell’ Dich nicht so an." Danke für Deine Hilfe, Edeltraud. Mit Holzklötzen blockiert er die Zimmertüre, holt seine Kamera heraus und fragt mich, ob ich nicht ein paar Fotos von mir haben möchte. "Ganz geheim!" sichert er mir zu. "Ja!" "Okay, zieh’ dich aus". "Nein, nicht nackt." Er zieht mich aus. Walter macht ein paar Bilder von mir. Ich stehe da. Unbeholfen. Er zieht sich aus und stellt sich mit dem Rücken vor mich. "Hier rein!" "Wo?" "In mein A****l**h!" "Was?" Er faßt mir zwischen die Beine. Warum wird er immer steif? Er hält meinen Z****l vor seinen A***h und drückt mich an sich heran. Ich fühle nur seine kalten A****b****n. Er schiebt mich vor und zurück. Er stöhnt und holt sich dabei einen runter. "Jetzt du!" Walter dreht sich um und drückt mich nach vorn. Ein schmerzender Stich. Ich schreie und er läßt von mir ab. Er gibt mir einen Zungenkuß und holt uns einen runter. "Wenn du irgendwem was davon sagst ..." "Nein." Ich verstehe die Drohung und gehe.

Es wiederholt sich. Wenigstens läßt er jetzt meinen Hintern in Ruhe. Ich kann nicht mehr einschlafen. Ich wälze mich hin und her. Träume. Ich werde andere Jungen. Schöne Jungen. Liebe Jungen. Jungen mit Eltern. Jungen mit Freunden. Jungen mit einem Zuhause. Jungen mit Familie. Jungen mit einer Freundin. Ich hole mir dabei einen runter, aber in meinem Kopf sind nicht die Freundinnen. Ich muß doch eine Freundin haben. Ich bin zwölf und alle haben schon mal eine Freundin gehabt. Scheiße. Irgendwann schlafe ich ein.

Ich bringe meine Wäsche zum Wäscheeimer. Daniela steht im Waschraum und föhnt sich die Haare. "Was machst du denn da mit Walter?" Was ich, nichts, gar nichts, überhaupt nichts, woher weißt du das, ich habe nichts gemacht, wie kommst du darauf. Ich stehe da und sage nichts. "Wie lange macht ihr denn das schon?" Ich zucke mit den Schultern. Daniela föhnt ihre Haare weiter. Ich gehe. Walter hat mich nie mehr angefaßt.

"Willst du mit mir gehen?" Ich frage nicht selbst. Dario fragt Gabi für mich. Sie sagt ja. Was jetzt? Wir gehen Händchen haltend zur Schule und wieder zurück. Zur Begrüßung und zum Abschied gibt es einen kurzen Kuß auf den Mund. "Kannst Du Zungenkuß?" fragt sie mich. "Ja!" Ich lüge. Fühlt sich merkwürdig an. Gabi und Dario sind beide in der dritten Gruppe. Wenn ich Gabi besuchen will, gehe ich zu Dario. Die Gruppenschwester der beiden merkt es. Aber sie lacht nur.

"Soll ich deinen Rücken eincremen?" fragt mich Gabi im Stadtbad. "Die Beine auch?" "Nein!" Nur das nicht. Meine Beine sind total behaart. Nach wenigen Wochen ist meine erste Freundin nicht mehr meine Freundin.

Dario besuche ich weiterhin. "Hi, wo sind die anderen?" "Im Hof." Ich breite mich auf dem Sofa in der Diele aus. Dario lümmelt sich daneben. Wir quatschen. Irgendwann liegt Dario auf mir. Bewegen uns. Streicheln uns. Ein bißchen. Ich habe einen Steifen. Hoffentlich merkt er es nicht. Ich bewundere Dario. Seine dunklen Haare hängen mir ins Gesicht. Er grinst. "Sollen wir dir mal zeigen, was wir grade in der Diele gemacht haben?" fragt Dario seine jünger Schwester. "Nein!" Ich laufe rot an. "Ach komm, Viola verrät uns nicht." "Trotzdem." "Was habt ihr denn gemacht" fragt Viola neugierig und Dario erzählt es ihr. Mir ist das total peinlich. Aber Viola lacht: "Zwei Jungen? Ihr spinnt ja!" Finde ich nicht.

Der Hausmeister

"Dir ist ganz schön langweilig hier so alleine, oder?" Schwester Edeltraud und ich sind die einzigen die da sind. "Warum geht ihr nicht mehr zu euren Verwandten?" "Die meinen, daß wir jetzt zu alt dafür sind." "Und zu deiner Oma?" "Keine Lust." Meine Oma will mich mit zwölf noch baden. Ich bin doch kein Kind mehr. "Hast du nicht Lust mit Helmut ins Wellenbad nach Oberstdorf zu fahren?" "Au ja!" Endlich mal was anderes.

Ich darf mit dem Hausmeister nach Oberstdorf ins Wellenbad! Ich kenne den Hausmeister. Ich helfe ihm manchmal wenn ich Zeit habe.

"Warst du schon mal in Oberstdorf?" "Ja, ist ganz toll dort!" Ich schwimme gern. Dabei fühle ich mich so schwerelos. "Möchtest du mal in die Sauna?" "Das kostet aber extra was." "Ach, das merkt keiner, wir werden schon nicht erwischt!" Wir schleichen nach oben wie zwei Gauner, hängen unsere Handtücher und Badehosen in einen leeren Schrank und gehen in die Sauna. Lauter nackte Männer. "Ist das heiß hier" stöhne ich und habe Schwierigkeiten beim Atmen. Mir ist unwohl. Nicht nur wegen der heißen Luft. "Alles in Ordnung?" "Ich weiß nicht." Ich fühle mich beobachtet. "Da ist doch nichts dabei" sagt der Hausmeister. Nach ein paar Minuten gehen wir wieder zurück ins Schwimmbad.

"Wir müssen langsam los, die Zeit ist um" sagt der Hausmeister und geht mit mir zu den Duschen. Ich dusche kurz und verziehe mich in eine Umkleidekabine. Helmut klopft. "Laß’ mich mal kurz rein, ich muß dir was zeigen." Neugierig öffne ich die Tür. Helmut zwängt sich in die enge Kabine. Ich halte das Handtuch vor mich. Der Hausmeister nimmt es weg und zieht sich aus. Ich stehe völlig unbeweglich da. Er faßt mich an. Unten. Ich soll ihn auch anfassen. Unten. Ich sage nein, aber der Hausmeister hört mich nicht. Er nimmt meine Hand. Ich schäme mich.. "Da ist doch nichts dabei, wenn zwei Männer es sich mal machen, oder?" Ich sehe an die weiße Türe. Nach ein paar Minuten ist alles vorbei. Endlich. Auf der Heimfahrt bin ich müde. Ich rede kein Wort. "Bist wohl ganz schön müde, was?" Ich blicke abwesend aus dem Fenster. Es regnet. Ich weine. Innen.

Vertrauen

Es ist elf Uhr abends. Ich sitze in der dunklen Diele. Die anderen sind schon im Bett. Schwester Edeltraud kommt vom Abendgebet. "Was ist mit dir?" Ich sitze mit angezogenen Beinen auf dem kleinen Tisch und vergrabe mein Gesicht in meinen verschränkten Armen. "Was ist los mit dir?" Ich fange an zu weinen. Schluchze. Sie setzt sich neben mich, nimmt mich kurz in den Arm, streichelt mich ein bißchen. "Willst du es mir nicht sagen?" Ich schüttle den Kopf und sie bringt mich ins Schlafzimmer.

"Räum’ deinen Verhau auf und wasch’ dir endlich mal wieder die Haare!" faucht mich Edeltraud an. Sie steht im Badezimmer und wickelt meinen kleinen Bruder. "Es ist aufgeräumt und meine Haare gefallen mir so!" schreie ich zurück. Edeltraud schaut mich an. "Das paßt aber gar nicht zu deinem Verhalten von gestern!" Ich gehe.

"Wo geht ihr da lang?" fragt Karin, unser neues Fräulein. Manfred und ich zeigen ihr, wie es geht. Der Betonklotz hat an den Fenstern einen zehn Zentimeter breiten Vorsprung. Oben hängt der Beton ein bißchen über den Platten über. Dort halten wir uns fest. Entgeistert schaut sie uns zu, wie wir uns an der Fassade von einem Zimmer zum nächsten hangeln. "Ihr seid ja verrückt, wenn da einer runterfällt." "Ach, das sind nur zwei Stockwerke." Wir lachen uns kaputt. "Ab ins Bett jetzt. Schlaft gut!" Karin ist okay.

"Komm heute nacht rüber, ja?" Petra schaut mich groß an. "Edeltraud schließt die Waschraumtüre ab." "Dann außen herum." "Psst. Sie kommt." Wir sitzen zu zweit vor dem Fernseher. Die kleinen sind schon im Bett, die anderen sind daheim. Es sind schließlich Ferien. Andreas muß arbeiten. Als Bäcker. Deshalb muß er auch früher ins Bett. "Ich gehe noch kurz in die Kapelle. Geht auch langsam mal ins Bett." "Ja. Gute Nacht." "Gute Nacht." Wir sind höflich. Ich steige barfuß aus dem Fenster und schiebe mich langsam an der Wand entlang. Ich klopfe ans Fenster. Aus dem Dunkeln taucht sie auf und öffnet. "Da bist du ja endlich." "Edeltraud ist erst gerade vom Nachgebet herunter gekommen und dann schaut sie immer noch mal nach den Kleinen." "Hier war sie nicht." "Bei mir auch nicht. Wir sind ja auch nicht klein." Wir sitzen am offenen Fenster und rauchen. "Komm." Petra nimmt meine Hand und zieht mich zu ihrem Bett. "Leg’ dich auf mich." Ich liege auf ihr und komme mir ziemlich lächerlich vor. Sie ist eineinhalb Jahre älter als ich und viel größer und breiter. Wenn ich jetzt herunter rutsche. Petra schiebt mich hin und her und stöhnt dabei. Mein Schlafanzug rutscht kräftig mit. Ich stöhne auch und muß bei meinem Schauspiel fast lachen. Sie gibt mir einen Zungenkuß. Stöhnt weiter. Atmet immer schneller. Dann ein Seufzer. Ruhe. Ich spüre nichts.

"Du hast da einen Pickel auf der Stirn" sagt Karin nachmittags in der Diele. "Komm her!" Umständlich drückt sie mit einem Tempo meinen ersten Pickel aus. "Du mußt dich besser waschen, dann bekommst du auch keine Pickel" lästert mein Bruder. "Du hast ja selber Pickel, da am Hals. "Das kommt vom rasieren." Wenn Andreas sich rasiert hat, ist er hinterher immer rot gesprenkelt. "Ich wasche mich auch regelmäßig und bekomme ab und zu einen Pickel, das ist völlig normal." Edeltraud taucht hinter mir mit dem Abendessen auf und verschwindet in der Küche. Danke.

Fussball

"Nächste Woche ist Sommerfest! Willst du nicht beim Fußball mitspielen?" "Ja klar!" Schwester Edeltraud braucht mich nicht lange zu überreden.

Die Heimmannschaft spielt gegen den ASV Hegge. Christian aus der zweiten Gruppe spielt schon lange dort Fußball. "Hast du keine Lust, im Verein zu spielen?" fragt mich Schwester Edeltraud. "Ich weiß nicht." Sie spricht mit dem Trainer. Er soll mich beobachten und dann sagen, ob ich gut genug bin.

Wir streuen mit Sägespänen die Linien auf unseren kleinen Platz. Wir verlieren, aber nur knapp. "Du spielst ganz gut. Wenn du regelmäßig ins Training kommst, hast du auch eine Chance bei uns zu spielen" sagt mir der Trainer nach dem Spiel. Seine Frau nickt zustimmend und lächelt.

Von da an fahre ich jede Woche zweimal mit Christian mit dem Fahrrad nach Hegge, auch bei Regen oder Schnee. Anfangs darf ich nur zuschauen. Nach ein paar Wochen spiele ich das erste mal mit!

Nach dem Training und dem Spiel duschen alle. Heimlich schaue ich die anderen Jungen an. Alle sehen viel besser aus. Ich schäme mich. Ich dusche nur kurz und ziehe mich schnell wieder an.

Ich gehe gern zum Fußballspielen. Der Trainer ist immer gut aufgelegt. Er feuert mich an, erklärt mir, wie ich was machen soll. Er reibt mein Knie ein, wenn es weh tut. Er legt mir seinen Arm um die Schulter, um mich zu trösten, wenn wir verloren haben. Ihn hätte ich gern als Vater.

Diese Sommerferien muß ich nicht ins Höfle. Dafür fahre ich in eine andere abgelegene Hütte. Mit meinen Firmpaten. Hier gibt es weder Strom noch fließend Wasser. Auf jeder Seite gibt es nur Berge. Wir wandern, obwohl ich wandern hasse. Zum Glück nur zweimal. An den anderen Tagen helfe ich Franz beim Holzsägen oder Pia beim Saubermachen. Spazieren gehe ich ganz gern. Es ist hier oben total ruhig. Werner ist schon erwachsen, Karin ist zwei Jahre älter als ich. Doris nur ein Jahr. Dafür ist sie doppelt so breit und einen ganzen Kopf größter als ich. Doris mag ich ganz gern. Sie lacht die ganze Zeit und ärgert Pia. Karin ist dagegen richtig ruhig. Franz und Werner streiten viel, weil Werner nicht alles das machen will, was sein Vater sagt. Pia kümmert sich viel um Sandra. Sie kann gerade mal laufen.

Sie teilen sich die Hütte mit einer anderen Familie und wechseln sich in den Ferien ab. Nach drei Wochen fahren wir wieder nach Kempten. Den Rest der Ferien kann ich in ihrem Haus bleiben. Franz muß wieder zum arbeiten. Werner auch. Und die beiden Mädchen sind pausenlos unterwegs. Ich bin gerne allein bei Pia. Sie behandelt mich wie ihre eigenen Kinder. Sie nimmt mich in den Arm. Streichelt mich. Kitzelt mich. Ärgert mich. Aber nur zum Spaß. Sie sagt mir auch, wenn ich etwas falsch mache. Aber niemals böse. Manchmal glaube ich fast, ich gehöre dazu.

"Du bist ja noch mehr behaart, als mein Göttergatte" lacht Pia. Ich sitze auf der Arbeitsfläche in ihrer Küche und sie streichelt meine Beine rauf und runter. "Aber schöner als du ist er allemal, Mutter." Etwas sticht in meinem Körper. Für einen Moment bekomme ich keine Luft. Pia müßte es doch auch ... Aber Pia lacht. Ich springe von der Arbeitsfläche und gehe ins Gästezimmer. Sie mögen meine Beine auch nicht. "Was ist los?" Pia kommt herein. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. "He, das war doch bloß Spaß!" Ich würde am liebsten losheulen. "Du bist genau richtig, Stefan!" Ich glaube ihr nicht.

Nach den Sommerferien komme ich in den Grünen Bunker. Teilhauptschule II, siebte bis neunte Klasse. Bei Frau Lassig macht der Unterricht Spaß. Ich muß kaum lernen und komme trotzdem gut mit.

Nihad sitzt neben mir. Wir gehen immer zusammen nach der Schule zurück. "Komm noch kurz mit rein und lerne meine Eltern kennen." Seine Eltern haben ein Restaurant. Ich bekomme was zu essen. "Im Heim gibt es immer das gleiche" sage ich ihm. Nachmittags treffen wir uns ab und zu bei ihm. Er ist AC/DC-Fan und spielt mir immer seine Platten vor. Oder wir gehen in den Hofgarten. Wir sitzen auf einem Baum. "Willst du auch eine?" Nihad hält mir eine Zigarette hin. Ich ziehe und huste. Nihad lacht. "Das geht vorbei." Wir sind echt cool.

"Warum streitest du dich immer mit Frau Lassig?" "Die Schule kotzt mich einfach an." "Frau Lassig ist doch ganz nett." Nihad nickt nur. "Komm’, wir besuchen sie und du entschuldigst dich!" "Warum denn?" "Du kannst doch nicht ewig mit ihr streiten." Wir gehen zu Frau Lassig. "Und du entschuldigst dich nur." "Ja." Ich klingle. Frau Lassig öffnet die Türe und schaut uns an. "Mach’ schon." Aber er entschuldigt sich nicht. Plötzlich schreit er nur noch herum und rennt dann einfach weg. "Er hat mir versprochen, sich bei ihnen zu entschuldigen" stammle ich vor mich hin. Frau Lassig runzelt die Stirn. "Das war wirklich nett von dir, aber ich glaube, Nihad ist kein guter Umgang für dich." Ich laufe Nihad hinterher. "Was ist los?" Nihad schweigt.

"Ich möchte auch so warme Winterstiefel wie du!" Ich gebe Nihad meine Winterstiefel und bekomme dafür seine Stiefeletten.

Nikolaus

"Glaubst du, ich merke nicht, daß du rauchst?" fragt mich Edeltraud vor dem Mittagessen. "Laß’ mich in Ruhe." "Ich verstehe dich nicht, du kümmerst dich so liebevoll um Dieter und dann bist du manchmal wieder unausstehlich." "Na und?" "Du beteiligst dich überhaupt nicht mehr am Gruppenleben." "Ist doch egal, du kannst mich ja sowieso nicht leiden." "Das stimmt nicht, du bist so ein hübscher Junge, wenn du deine Haare gewaschen hast." Hätte ich sie bloß nicht gewaschen.

"Dein Schulfach sieht aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte" "Solange ich meine Sachen finde, kann’s dir doch egal sein." "Nächste Woche kommt der Nikolaus. Dann werden wir ja sehen, ob du dann noch so vorlaut bist." Edeltraud dreht sich um und geht. Nikolaus. Jedes Jahr verkleidet sich einer und spielt Nikolaus. Liest laut vor, was die Kinder verbrochen haben. Ein Knecht Ruprecht fuchtelt dabei mit seiner Rute herum.

"Sooo. Wen haben wir denn jetzt? Ahhh, den Stefan. Na dann komm mal vor." Ich kann mein Lachen nicht unterdrücken. "Was gibt es denn da zum Lachen? Wenn ich das hier so sehe, dann wird dir das Lachen gleich vergehen!" Knecht Ruprecht schnauft wild. "Du streitest dich immer mit deiner Gruppenschwester!" Der erste Schlag. Hinten auf meine Schenkel. "Du räumst dein Zimmer nicht auf, wenn es dir gesagt wird!" Der zweite Schlag. "Du hältst dein Schulfach nicht in Ordnung!" Der dritte Schlag. "Mit der Reinlichkeit läßt es auch zu wünschen übrig!" Der vierte Schlag. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich drehe mich um und sehe Edeltraud, wie sie lacht. "Ah, jetzt weinst du auch noch. Sonst willst du doch immer schon der Große sein." Noch ein Schlag. Ich halte meine Hände vor mein Gesicht. "Dann wollen wir es mal gut sein lassen für heute." Ich drehe mich um und gehe heulend aus der Turnhalle raus. Ich gehe aufs Klo und ziehe meine Hose runter. Auf meine Schenkeln sehe ich rote Streifen. Es blutet.



Katholisches Jugendheim Kempten (Allgäu) - Katholische Waisenhausstiftung - Gerhardinger Haus

An das Stadtjugendamt Kempten

Entwicklungsbericht über Strauch, Stefan, geb. 20.07.69

Stefan ist zusammen mit seinem Bruder Andreas seit September 1976 in unserer Einrichtung. Beide haben sich gut eingelebt und kommen mit den Gruppenmitgliedern, die meisten kennen sich schon über Jahre hinweg, gut zurecht.

Stefans äußeres Erscheinungsbild ist das eines freundlichen und sympathischen Jungen. Altersentsprechend entwickelt sind seine Bewegungsabläufe oft lässig, entspringen jedoch nicht der Haltung eines Sich-gehen-lassens.

In Gestik und Mimik bringt er seine Gefühle deutlich zum Ausdruck. Bei der Körperpflege und dem Sauberhalten der Kleidung beschränkt er sich auf das Nötigste und bedarf beinahe übertrieben häufiger Hinweise.

Sein Gesundheitszustand ist gut und stabil.

Stefan gibt sich im Verhalten einerseits erwachsener als er ist, andererseits bei der Erfahrung von Grenzen eher kleinkindhaft (weint rasch, trotzt). Tadel oder Strafe verträgt er sehr schlecht und reagiert meist mit totaler Leistungsverweigerung bzw. zieht sich schmollend zurück.

Eine ausgeprägte Grundstimmung ist nicht vorhanden. Jeweils abhängig von den Situationen sind seine Reaktionen. Eine gewisse Ausgeglichenheit geht im ab.

Stefans Leistungsverhalten ist nicht konstant. Gute Noten, die Erfolgserlebnisse vermitteln, motivieren ihn gelegentlich zu einer Leistungssteigerung. Im allgemeinen sind seine Leistungen schwankend, Während der Hausaufgaben bedarf er einer strikten Beaufsichtigung, schon allein deswegen, um nicht laufend störend andere zu beeinflussen.

Für das kommende Schuljahr 82/83 ist ein Wechsel an die Realschule geplant. Mit seiner früheren Lehrerin verstand er sich sehr schlecht und so waren sehr häufige Kontakte zur Schule notwendig. In diesem Schuljahr dagegen scheint Stefan bedeutend besser zurecht zu kommen und möchte auch aus eigenem Antrieb den Übertritt versuchen.

Stefan ist im allgemeinen auffallend hilfsbereit, vor allem neuen Personen bzw. Mitarbeitern gegenüber. Bindungen aufrecht zu erhalten macht ihm mehr Schwierigkeiten. Stefan hat innerhalb der Gruppe keinen festen Freund. Gelegentlich entsteht der Eindruck, daß die Kontaktaufnahme von den zu erwartenden Vorteilen abhängig ist.

Ordnunghalten (Schulfach, Schrank, Zimmer usw.) ist Stefans größtes Problem und Ausgangspunkt zahlreicher Konflikte zwischen Erziehern und auch Gruppenmitgliedern. Hier reagiert er auf berechtigte Anforderungen meist affektvoll mit Beschimpfungen oder "Streik". In solchen Situationen akzeptiert er schwer Begründungen.

Stefan hat ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung - auch innerhalb der Gruppe. Die Führerrolle möchte er gerne anstreben, was ihm jedoch nicht gelingt. Ansonsten ordnet er sich gut ein und hält sich an den Tagesablauf.

Auffallend fürsorglich und verantwortungsvoll bemüht sich Stefan um das jüngste Mitglied der Gruppe (Junge mit 1 1/4 Jh.).

Beziehungen zur Oma Frau Hausen / Fam. Ressle / und zum Vater:

Mit der Besuchsregelung, die für Frau Hausen eine Einschränkung beinhaltet hätte, konnte nichts erreicht werden. Allerdings blieb Stefan auf eigenem Wunsch einige Male im Heim. Zur Zeit zieht Frau Hausen um und ließ erkennen, daß sie Stefan momentan nicht haben wollte.

Die Beziehung ist oftmals gekennzeichnet von größeren Spannungen, weil Frau Hausen unserer Ansicht nach in Stefan immer noch den kleinen Jungen sieht und ihn entsprechend behandelt. Von diesen Wochenenden kam Stefan ziemlich wütend und affektgeladen zurück, so daß in Erwägung gezogen wurde, die Besuche zu Gunsten der Familie Ressle zu verändern. Zu dieser Familie hat Stefan einen guten Kontakt und fühlt sich dort angenommen. Herr Ressle ist Stefans Firmpate.

Der Kontakt zum Vater erstreckt sich in der Weihnachtszeit darauf, daß dieser mit Stefan die Ski neu einstellen läßt und ihm verspricht, einige Tage mit ihm zum Skifahren zu gehen. Leider blieb es bei den Versprechen. Stefan hält trotz dieser wenig erfreulichen Erfahrungen zum Vater.

Zusammenfassende Stellungnahme:

Stefan ist ein lebhafter, um Kontakt bemühter Junge. Affektive Störbarkeit sowie ein geringer Spannungsbogen verhindern höhere Leistungen. Bei geringem vitalem Antrieb ist er dennoch sehr engagiert. Dabei ist sein Verhalten stark von dem Bedürfnis nach Einzelbeziehung getragen. Bei Stefan bedarf es weiterhin einer kontinuierlichen Betreuung im Heim. In der vertrauten Umgebung und den stabilen Bezugspersonen wird vor allem angestrebt:

- Stefan im selbständigen zuverlässigen Arbeiten zu verstärken,
- ihm zu verhelfen mit ungelösten Beziehungsproblemen und Konflikten besser zurecht zu kommen und
- im Freizeitbereich Stefan bestimmten Hobbys zugänglich zu machen.

Sr. Edeltraud

Kempten, den 10.02.1982



Lesbisch und Schwul

Wir stehen in der Raucherecke im Hof. Sandra schaut nach, ob jemand kommt. Manfred kommt dazu. Wir rauchen ein paar Zigaretten und reden über S**. "Hast du schon mal ‘n nacktes Mädchen gesehen?" fragt mich Manfred. "Nein, nur meine Mutter früher" sage ich ehrlich. "Ich schon" sagt Sandra und alle lachen. "Wie fühlt sich das an?" frage ich und fasse sie kurz an ihren Busen. Sie will mir zwischen die Beine fassen aber ich drehe mich weg. Ich greife ihr von hinten unter den Armen durch und knete an ihren Busen. Sie wehrt sich nicht richtig. Lacht. Manfred steht daneben und grinst.

"Au." Sandra zwickt mich in die Seite und rennt aus der Diele in ihr Schlafzimmer. "Hilf’ mir!" Manfred rennt mir nach. "Wo bist du?" Unter dem Bett kommt ein Kichern. "Von jeder Seite einer." Wir kriechen unters Bett und halten ihre Arme fest. Mit der anderen Hand fummeln wir an ihrem Busen herum. Sie wehrt sich, quietscht und lacht. "Hört auf" schreit sie. Wir machen weiter. Plötzlich bleibt sie ganz ruhig liegen. "Und, macht’s Spaß?" Nein jetzt nicht mehr. Ich krieche unter dem Bett hervor und gehe ins Wohnzimmer. "Fandest es wohl geil?" "Das war doch nur Spaß" antworte ich unsicher. "Und, haste ‘n Steifen bekommen?" Ich schüttle den Kopf und laufe rot an. "Halt’ die Fresse, blöde Kuh!" schreie ich zurück. "Bist wohl schwul, ha?" Für einen Moment sterbe ich. Ich boxe ihr in den Bauch. Sie gibt mir eine Ohrfeige und singt: "Stefan ist schwu-ul, Stefan ist schwu-ul ..." Ich werde wütend und schreibe auf einen Zettel ,Sandra ist lesbisch’ und will ihn aus dem Fenster werfen. Sandra zieht mich am T-Shirt zurück, kratzt mir ins Gesicht und reißt mir den Zettel aus der Hand. "A****l**h" schreit sie mich an. "Selber" schreie ich zurück und schlage die Türe nach mir zu. Sandra kommt hinter mir her. Ich spüre meinen Pulsschlag in den Schläfen pochen. "Was ist denn mit euch los?" fragt Edeltraud aus der Küche heraus. "Nichts." "Gar nichts."

An einem Abend ist Dieter plötzlich weg. "Er ist jetzt wieder bei seinen Eltern, das Jugendamt hat das so entschieden." Ich glaube es nicht und frage Edeltraud warum. Sie erklärt und erklärt. Aber es gibt keine Antwort. Es ist still in der Gruppe.

"Du kannst doch nicht die ganzen Ferien hier so herum sitzen. Helmut hat gefragt, ob du ihm helfen kannst." "Keinen Bock." Die erste Woche der Pfingstferien hat sie mich noch in Ruhe gelassen. "Weißt du, du kannst dich ruhig mal ein bißchen nützlich machen. Du bekommst im Leben nicht alles geschenkt." "Mein Vater bezahlt für mich das Heim." "Das ist aber nur ein Bruchteil von dem, was das hier kostet. Ein bißchen arbeiten schadet dir nicht. Außerdem lernst du da was fürs Leben" ruft mir Edeltraud noch hinterher. Also helfe ich dem Hausmeister. Rasen mähen, Fenster streichen, Abflüsse abdichten.

Bevor ich wieder nach oben gehe, sitzen wir im Heizungskeller. Bei ihm darf ich rauchen und auch mal ein Bier trinken. Die Schwester weiß davon natürlich nichts. Es ist unser Geheimnis. "Ich schließe schon mal ab." Der Hausmeister verschwindet für einen Moment. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich werde unruhig. "Ich muß hoch zum Abendessen." "Kennst du schon das Überlaufbecken?" In der hintersten Ecke des Heizungskellers erklärt mir Helmut die technischen Armaturen. "Tun wa’s noch’n bißchen?" Nein! Habe ich es gesagt oder nur gedacht? Ich spüre seine Hand in meiner Hose. Ich zittere. Wenn jemand kommt. Ich schäme mich. Er nimmt meine Hand und führt sie zu seinem S*****z. Mechanisch bewege ich meine Hand vor und zurück. Ich muß mich konzentrieren. Es dauert zum Glück nicht lange. "Machst du es auch mit anderen?" "Nein, nur mit dir. Die anderen sind mir zu kindisch." "Und warum ausgerechnet mit mir?" "Du gefällst mir halt." Ich gefalle ihm? "Und deine Frau?" "Ich mag meine Frau trotzdem. Es ist doch ganz normal, wenn zwei Männer mal ein bißchen rummachen." Männer. Ich bin fast dreizehn.

"Willst du nicht auf die Realschule?" Wir sitzen auf der Plattform vor dem Höfle und essen zu Abend. Edeltraud setzt sich neben mich. Schwester Agila nickt zustimmend. "Da muß ich die siebte ja noch mal machen." "Dafür hast du es dann leichter als die anderen." "Alle ein-, zwei Jahre in ‘ne neue Schule und dann auch noch ein Jahr länger." Ich traue ihnen nicht. "Mit einem Realschulabschluß hast du viel bessere Chancen im Leben und du hast das Köpfchen dazu!" Schwester Agila schmeichelt mir. "Außerdem ist die Anmeldefrist schon abgelaufen." "Das kriegen wir hin." Edeltraud gibt keine Ruhe. "Ich denk’ drüber nach."

Ich stehe im Eingangsbereich der Realschule und suche meinen Namen auf den vielen Listen. Ich finde ihn nicht und lese noch mal alle Listen langsam durch. Ich werde nervös und bekomme feuchte Hände. Vorsichtig klopfe ich an die Tür des Sekretariats. "Herein!" "Ich kann meinen Namen auf keiner Liste finden." "Wie heißt Du denn?" Ich sage ihr meinen Namen. "Ah, ja." Wir gehen in das Büro des Direktors. Ein alter Mann sitzt hinter einem großen Schreibtisch. "Ist gut, ich bringe ihn selbst in die Klasse." Der Direktor begleitet mich in den dritten Stock, klopft an eine Türe und geht rein. Ich bleibe stehen. Ein kleiner alter Mann fuchtelt mit den Händen. Alle stehen auf. Der Direktor spricht mit dem Klassenlehrer und verschwindet wieder. "Dann setze dich mal dahinten hin." Ich schlürfe in die letzte Reihe. Alle schauen mich an.

Herr Moll ist streng. Wenn er herein kommt, müssen alle aufstehen. Morgengebet. Oh Gott. Wir lernen das ,Vater unser’ auf Englisch und beten es dann jeden Morgen. Er schreit uns an, wenn wir im Unterricht reden. "Füllhalter weg!" brüllt er immer am Ende von Schulaufgaben oder Exen und rennt dann wie ein Kranker durch das Klassenzimmer und sammelt die Unterlagen ein. Ich kann ihn nicht leiden.

Ein paar Reihen vor mir links sitzt Martin. Blonde, längere Locken, blaue Augen und schlank. Er fiel mir gleich am ersten Tag auf. Wenn es warm ist, kommt er mit kurzen Hosen. Dann sehe ich seine Waden, seine Schenkel, leicht gekräuselte blonde Härchen. Nach dem Sport sehe ich ihn ganz. Nackt. Die breiten Schultern. Der glatte Oberkörper. Am Bauchnabel beginnen ein paar wenige Härchen, die bis zu seinem S*****z hin immer dichter werden. Die schmale Taille. Die dünnen, aber doch kräftigen Schenkel und Waden. Drahtige Füße und Hände. Ich muß immer wieder hinsehen. Heimlich. Unter der Dusche. Ich würde ihn gerne einseifen. Aber er seift sich selbst ein. Seine Hände wandern über seinen Körper. Unter den Achseln fährt er mehrmals auf und ab und gleitet dann über seinen Oberkörper zwischen seine Beine. Schiebt seinen S*****z durch die eine Hand und wäscht seine E**r mit der anderen. Dann dreht er sich um und läßt seine Hand zwischen seinen A****b****n auf- und abfahren. Mir wird schwindelig. Ich drehe mich zur Wand. Ich darf ihn nicht anstarren. Bloß nicht auffallen. Martin verschwindet. Ich gehe allein zurück ins Heim.

Nach ein paar Wochen sitzt Jochen neben mir. Sein Nachbar hat zuviel mit ihm gequatscht. "Wie kann man in Mathe nur so gut sein!" Mathe ist für mich kein Problem.

"Meine Eltern laden dich am Sonntag zum Essen ein, dann können wir auch Mathe lernen. Willst du?" Ich gebe Jochen die Adresse und warte am Sonntag vor der Einfahrt. Ich will nicht, daß sie ins Heim kommen. Jochen und sein Vater holen mich mit einem großen Opel Senator ab. "Das Essen ist gleich fertig!" Seine Mutter kommt aus der Küche und zwinkert mir zu. "Schau mal wie anständig Stefan ißt." Jochen will sich beschweren, aber seine Mutter wimmelt ihn ab. "Wo hast du so anständig essen gelernt?" "Von meiner Mutter" antworte ich kurz. Es ist mir peinlich. "Warum bist du im Heim?" Ich erzähle es ihnen und die Eltern sehen mich bedauernd an.

Alle paar Wochen bin ich bei Jochen zum Essen eingeladen. Familienleben auf Zeit. Ich bekomme Geschenke. Einen Walkman. " Das kann ich nicht annehmen!" Ich fühle mich überrannt. "Das ist mein Walkman!" Jochen steht neben mir. "Du brauchst doch keine zwei, oder?" "Du kannst doch nicht einfach meine Sachen verschenken." Jochen wird lauter. "Du hast sowieso zu viel. Du bekommst doch alles was du brauchst. Stefan bekommt im Heim fast nichts!" Ich zucke zusammen. "Ja, stimmt schon" sagt Jochen leise. Es ist mir unangenehm. "Ich brauche nicht unbedingt einen Walkman" sage ich zu Jochen, als wir wieder in seinem Zimmer sind. "Behalt ihn ruhig." "Nein!" Ich halte Jochen den Walkman hin. "Du kannst ihn wirklich behalten. Es tut mir leid wegen vorhin." "Ich fühle mich ganz schön bescheuert dabei." Wir schweigen. "Machen wir noch ein bißchen Mathe?" Ich nicke nur.

"Erst einmal schreiben wir das Rezept von dem auf, was wir letzte Woche gekocht haben." Die Lehrerin kann keiner so recht leiden. Wir haben Hauswirtschaftskunde. Alle vierzehn Tage kochen wir, dazwischen haben wir Theorie. Nachmittags. Die Sonne scheint schräg ins Klassenzimmer. Mir ist heiß. Zu heiß, um aufzupassen. Die Lehrerin malt bunte Bilder an die Tafel und redet ohne Ende. Ich schaue auf den Schulhof. Er ist leer. "Ich halt’s nicht mehr aus" sagt Martin und zieht sein T-Shirt aus. In Hauswirtschaft sitzt er direkt neben mir. Ich sehe seine glatte Brust, seine kleinen Brustwarzen, seinen flachen Bauch. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ein paar helle Härchen kommen aus der Hose bis zum Bauchnabel. Ich möchte ihn berühren. Seinen Körper spüren. "Ist dir nicht auch heiß?" "Doch." Martin reißt mich aus meinen Gedanken. "Warum ziehst du nicht auch dein T-Shirt aus!" Ich schüttel nur den Kopf. Nein. Mein T-Shirt vor ihm ausziehen. Ich schäme mich.

Verdammt, schon wieder. Wir sitzen im Physikraum und ich habe schon wieder einen Steifen. Immer mitten im Unterricht. Wilde Bilder schwirren durch meinen Kopf. Nur aufpassen, daß es keiner merkt. Ich konzentriere mich auf die Formeln an der Tafel, aber mein S*****z bleibt noch eine Weile steif. Zum Glück passiert mir das nicht beim Sport oder danach beim Duschen.

Er und ich sind im Schwimmbad. Spritzen uns naß. Lachen. Balgen. Tauchen um die Wette. Rennen zurück zu den Decken. Lassen uns fallen. Kitzeln uns. Dann liegt er ruhig auf mir. Lacht mich an. Wasser tropft von seinen Haaren auf mein Gesicht. Die Sonne blendet mich. Er küßt mich. Er ist Martin. Aber wer bin ich. Ich öffne die Augen und sehe aus dem Fenster in den blauen Himmel. Schwester Edeltraud. Ich hab’ sie nur kurz gesehen. Mein S*****z ist schlaff. Verdammt, muß sie mich ausgerechnet beim Wichsen erwischen. Mein Herz klopft wild. Ich decke mich zu und versuche langsam zu atmen. Ich schließe die Augen. Martin taucht auf.

"Ich möchte mich entschuldigen, wegen gestern abend." Edeltraud schaut mich nur kurz an. Ich sehe kurz in ihre Augen. "Ja" sage ich und gehe. Seitdem klopft sie an, bevor sie ins Zimmer kommt.

Der dritte Weltkrieg

Nach vier Jahren muß Schwester Edeltraud nach München zurück. Sie soll Lehrerin an einer Mädchenschule werden. Ich gehe mit ihr ein Stück weit vom Höfle weg. Wir reden über mich. Sie will mir Mut machen. Tut es mir weh, daß sie geht? Sieglinde bleibt.

"Schwester Oswalda ist schon im Heim" sagt Schwester Agila aus der zweiten Gruppe zu mir. Alle sind am packen und räumen. Die Sommerferien sind zu Ende. Endlich.

Eine ältere Frau öffnet die Gruppentür. "Ich bin Schwester Oswalda. Wir werden sicher gut miteinander auskommen." "Ja" sage ich höflich. Ich bringe meine Sachen in mein Zimmer zurück. "Essen!" Es sind noch nicht alle von daheim zurück. Wir sitzen an einem Tisch und essen zu Mittag. Die Schwester beginnt zu spülen. "Und der Stefan trocknet nachher ab!" "Nö. Keine Zeit." "Doch, du trocknest nachher ab!" "Nein!" Kaum ist die da und will mich herum kommandieren. Ich stehe auf und gehe in mein Zimmer.

Innerhalb kürzester Zeit hat Schwester Oswalda alles umgeräumt. Die Bastelsachen sind jetzt da, wo vorher die Kerzen waren, die Kerzen sind jetzt im Schrank unter den Tischdecken, die Spiele kommen von den oberen Schränken in die unteren Schubladen. Ich finde nichts mehr. Die anderen auch nicht.

"Du hast Küchendienst" keift mich die Schwester Oswalda an. "Ich trockne ab, wenn sie fertig sind" entgegne ich kurz und verschwinde auf mein Zimmer. Ich gehöre jetzt zu den großen. Roland und Walter sind weg. Zum Glück.

Seit Schwester Oswalda da ist, frühstücke ich nicht mehr. Ich nehme mein Brötchen und gehe viel zu früh zur Schule.

Fast jeden Tag streiten Oswalda und ich. Das Zimmer, die laute Musik, die Klamotten, der Küchendienst. Sie hat an allem etwas auszusetzen.

In der achten Klasse kommt eines Morgens nicht Herr Moll rein. Herr Brohmeyer geht vor ans Pult. "Herr Moll hatte einen Herzinfarkt." Irgendwie freue ich mich darüber. Wir bekommen eine neue Englischlehrerin und eine neuen Deutschlehrerin. Beide sind noch ziemlich jung und meine Noten werden besser.

"Guck mal, wer da im Bad ist" empfängt mich Sieglinde nach der Schule. Dieter! "Warum?" "Das Jugendamt. Schwester Oswalda hat ihn zu Joachim und Florian ins Zimmer gesteckt." "So ein Schwachsinn." Ich nehme sein Bett und räume mein Sofa.

Als Schwester Oswalda kommt, motzt sie mich an. "Drei kleine Kinder in einem Zimmer. Wenn einer schreit, sind die anderen auch wach." Gegen mein Argument hat sie keine Chance. "Dann darfst du aber abends keine laute Musik mehr anmachen." Irgendwie scheint ihr das ganz recht zu sein.

"Mir ist kalt." Dieter steht vor meinem Bett und schaut mich verschlafen an. "Willst du zu mir rein?" Ich halte die Bettdecke hoch und Dieter krabbelt zu mir ins Bett und schläft gleich wieder ein. Ich kann nicht mehr schlafen und sehe ihn einfach nur an.

Ich lebe auf. Es ist schön, wenn Dieter nach der Schule auf mich zustürmt und mir von seinen Erlebnissen vom Vormittag berichtet. Außer Atem erzählt er mir, was er gelernt, gemalt, gespielt hat. Ich höre aufmerksam zu.

Nach wenigen Wochen ist Dieter wieder weg. "Das Jugendamt hat ihn zu Pflegeeltern gesteckt" sagt mir Oswalda in der Diele. Ich rege mich darüber auf und Schwester Oswalda ist wie selten mit mir einer Meinung.

Weihnachten

Ich klingle an der Haustüre von meinem Vater. Wenn sie wieder keine Zeit haben? Seine Frau macht auf. "Ja?" sagt sie tonlos. Sie steht wie damals an der Türe. "Ist mein Vater da?" frage ich vorsichtig. "Komm rein" sagt sie knapp und macht eine Glastüre auf. Mein Vater sitzt am Küchentisch und ißt zu abend. "Setz’ dich, magst du auch was essen?" Seine Frau legt mir ein Holzbrett und ein Messer hin. Seine Frau spült ab. "Das ist ja eine Überraschung" sagt mein Vater endlich. "Hier! Zu Weihnachten." Ich stelle ihm ein Geschenk auf dem Tisch. "Oh! Danke!" Mein Vater wirkt völlig überrascht. Er schaut mich an. Seine Frau sagt nichts. "Ich muß pünktlich im Heim sein." Ich bin froh, als ich wieder draußen bin.

"Du kannst über die Weihnachtsfeiertage zu Deinem Vater." Oswalda lächelt mich an. "Wollen sie mich los sein?" "Dein Vater hat vorhin angerufen. Er holt dich um halb eins ab. Na, das ist doch eine Überraschung." Fast könnte ich meinen, sie freut sich für mich. Ich sehe das Auto meines Vaters auf den Hof fahren und gehe, ohne Tschüs zu sagen. Wir sitzen in der Küche und schweigen. Ab und zu fragt mein Vater oder seine Frau etwas. Ich antworte kurz. Der Nachmittag zieht sich in die Länge. Wir sehen fern. Trinken Kaffee. "Du trinkst doch Kaffee?" "Ja." Essen Kuchen. "Du magst doch Kuchen?" "Ja." Sehen weiter fern. Es wird dunkel. Mein Vater macht die Rolläden runter. Wir essen zu abend. "Ihr könnt herüber kommen" ruft seine Frau aus dem Wohnzimmer. "Sie hat extra das Wohnzimmer geheizt für heute. Sonst sitzen wir immer in der Küche" sagt mein Vater beim hinüber gehen. In der Ecke steht ein kleiner Weihnachtsbaum. Auf dem Tisch ein Adventskranz. Darum ein paar Geschenke. Sie öffnen ihre Geschenke. Bedanken sich gegenseitig: "Ach, du bist verrückt, so was teures!" "Das wäre doch nicht nötig gewesen!" Da kann ich nicht mithalten. Von mir bekommt er nur etwas selbstgebasteltes. Ich packe mein Geschenk aus. Eine Armbanduhr. Höflich sage ich danke. "Für sie habe ich leider kein Geschenk, so schnell konnte ich" "Ach das macht doch nichts. Du kannst ruhig Lore und du zu mir sagen." Ich nicke. Mein Vater sitzt neben mir und macht ab und zu einen Witz. Seine Frau grinst ihn an. Ich weiß nicht wo ich hinsehen soll. "Hier hast du was zum lesen. Du bist ja schon alt genug für so etwas." Seine Frau streckt mit eine Zeitschrift entgegen. ,Wochenend’ steht oben darüber und darunter eine halbnackte Frau, die ihren Mund halb öffnet und blöd grinst. Auf jeder Seite Busen. Die Bilder langweilen mich. Ich lese die Witze. Sie sind auch nicht besser. "Willst du noch was essen?" Wir gehen wieder in die Küche und sehen fern. Seine Frau gähnt, steht auf und geht ins Bad. Kurz darauf kommt sie wieder. "Ich geh’ schon mal ins Bett. Gute Nacht Horst, gute Nacht Stefan." "Gute Nacht" sage ich höflich. Mein Vater schaut auf den Fernseher. Ich sehe ihn von der Seite an. Wenn er Grimassen schneidet, muß ich einfach lachen. "Tschüs, bis morgen." Wir schütteln uns die Hand, bevor er ins Schlaf- und ich ins Gästezimmer gehe. Jetzt komme ich bald in eine richtige Familie. Ich liege noch lange wach.

Von da an gehe ich jedes zweite Wochenende zu meinem Vater und zu seiner Frau. "Erzähle doch mal wie es war" fragt mich Oswalda jedes mal, wenn ich wieder komme. "Ganz schön" antworte ich kurz und verschwinde in meinem Zimmer.



Katholisches Jugendheim Kempten (Allgäu) - Katholische Waisenhausstiftung - Gerhardinger Haus

An das Stadtjugendamt Kempten

Entwicklungsbericht für Stefan Strauch, geb. 20.07.69

Von seiner äußeren Erscheinung her wirkt Stefan älter als er ist. Er hat einen kräftigen Körperbau, ist sportlich, groß und gesund.

Stefan besucht die 2. Klasse der Staatl. Knabenrealschule und verfügt über gute Begabung. Seine Leistungen sind schwankend, da sie weitgehend an seine jeweilige Stimmung gebunden sind. Seine Hausaufgaben erledigt er selbständig und will in keiner Weise eine Kontrolle.

Stefan ist starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt, die den Umgang mit ihm sehr erschweren. Er ist an manchen Tagen höflich, liebenswürdig und hilfsbereit, daß jeder seine Freude haben kann. Dann wieder, ohne ersichtlichen Grund, abweisend, Antwort verweigernd, oder provokativ. Dann möchte er einfach in Ruhe gelassen werden. Wird ihm eine Sonderstellung eingeräumt, zeigt er sich von seiner besten Seite. Überträgt man ihm Verantwortung, oder Aufgaben, die ihn hervorheben, erledigt er sie gerne und gut. Er zeigt sich als flinker, praktischer Arbeiter.

Stefan neigt zum Einzelgänger. Er hat keinen festen Freund. Auch in der Gruppe schließt er sich den anderen wenig an und zieht es vor allein zu sein. Jüngere Gruppenmitglieder setzt er gerne unter Druck, wenn sie ihm nicht gehorchen. Spielt er mit ihnen, dann nur als Führer, ansonsten stört er ihr Spiel. Mit den Kleinsten geht er fürsorglich und lieb um.

Herr Ressle, sein Firmpate, hält auf Stefan und lädt ihn öfters in seine Familie ein. Auch an Weihnachten besuchten sie ihn. Nach anfänglicher Zuneigung möchte er nun nicht mehr hingehen und zieht den Aufenthalt im Heim vor. Geknüpfte Kontakte zu Schulkameraden oder Jugendgruppen hält er nicht lange aufrecht. Eine rühmliche Ausnahme macht der Fußballclub. Pünktlich geht Stefan jede Woche zum Training. Sein Vereinsvorstand ist sehr zufrieden mit ihm und schildert ihn als nett, höflich und zuvorkommend.

An die Gruppe stellt Stefan hohe Erwartungen. Er kritisiert und nörgelt gerne an allem und jedem herum. Wird er selbst wegen mangelnder Rücksichtnahme, z. B. Ruhestörung abends im Schlafzimmer, zur Rede gestellt, wird er lautstark und reagiert unsachlich oder flüchtet in beleidigende Äußerungen.

Seit Weihnachten besteht wieder Kontakt zum Vater. Stefan war zweimal ein Wochenende dort zu Besuch. Über das Erlebte äußert er sich in keiner Weise. Stefan sagt kaum etwas persönliches über sich aus, während eine Unterhaltung über andere oder allgemeine Probleme sehr gut möglich ist. Bei letzterem trägt er erstaunlich vernünftige Ansichten und Standpunkte vor.

Sr. Oswalda

Kempten, den 03.02.1984



Sommer 84

"Hast du schon mal mit anderen Jungs rumgemacht?" Fred sitzt neben mir auf den Tischen unterm Dach im Hof. Ich blinzle in die Sonne und nicke nur. "Ich auch. Als ich noch im Heim war. Und? Wie findest Du’s?" Ich ziehe meine Schultern hoch: "Geht so." Wir gehen in den Waschraum neben den Garderoben. Er umarmt mich. Ich stehe da. Bewegungslos. Er zieht mir das T-Shirt über den Kopf. Ich spüre seine Hände auf meiner Brust, auf meinem Rücken, am Hals. Es fühlt sich anders an. Mein Körper vibriert. Sanft. Ich bekomme einen Steifen. Einen Moment lang ist es mir peinlich. Er öffnet meine Hose und zieht sie mir aus. Mit seinen Händen berührt er mich an den Beinen, am Hintern. Zwischen den Beinen kommen seine Hände nach vorn. Ich werde fast verrückt. Mein Körper wird elektrisiert von seinen Berührungen. Ich fasse ihn auch an. Seinen Oberkörper. Seine Beine. Seinen S*****z. Wir bringen uns gegenseitig bis zum Orgasmus. Wir umarmen uns. Mir wird schwindelig. Ich kippe beinahe um. Ich fange an zu lachen. Ich lache. Es hat Spaß gemacht mit ihm. Verrückt.

Ich bin jetzt jedes Wochenende im Heim. Aber mir ist nicht langweilig. Ich sitze auf dem Fensterbrett und träume. Oder lese Bravo. ,Letzte Woche nach dem Sportunterricht haben mein bester Freund und ich uns gegenseitig einen runtergeholt. Bin ich jetzt schwul?’ ,Wenn mein älterer Bruder duscht, beobachte ich ihn heimlich. Dabei bekomme ich immer einen Steifen. Bin ich normal?’ Diese Fragen interessieren mich brennend. Die Antworten sind meistens ziemlich gleich: ,Das ist nur eine Phase, die alle Jungen in deinem Alter durchmachen. Das geht vorbei.’ Ich bin bestens aufgeklärt.

Ein weißer Manta fährt auf den Parkplatz. Fred kommt, denke ich mir. Ich bin auf alle neidisch, die nicht im Heim sind. Oder schon wieder draußen. Wie Fred. Er winkt und ich gehe in den Hof. "He, hock hier nicht so faul herum, laß uns rausfahren." Ich frage nicht, sondern verschwinde einfach. Wir verlassen die Stadt und sind irgendwann auf einem schmalen Feldweg. "Willst Du mal fahren?" "Ich? Klar eh." Fred steigt aus und ich klettere auf seinen Platz. Er erklärt mir, wie man Auto fährt. Langsam bewegt sich das Auto vorwärts. Ich fahre Auto! Wahnsinn! Ein Traktor kommt mir entgegen und ich fahre lässig an den Rand des Weges. Ich lächle und nicke freundlich. Der Bauer fährt vorbei und schüttelt den Kopf. "Ich habe Durst, komm wir fahren zu mir." Leider will er jetzt wieder selbst fahren. Wir trinken ein Radler und rauchen ein paar Zigaretten. Wir quatschen über das Heim fangen irgendwann an uns zu streicheln. "Du hast eine schöne E****l" sagt Fred und ich sehe meinen S*****z in seinem Mund verschwinden. Ich lasse mich nach hinten auf die Couch fallen und genieße es. Ich fummle umständlich an seiner Hose herum und nähere mich langsam seinem S*****z. Er riecht gut. Ich fahre mit meiner Hand auf und ab. Seine E****l ist groß und prall. Ich berühre sie und Fred stöhnt leise. Ich nehme ihn in den Mund und beginne daran zu lutschen. Ich lecke mit meiner Zunge um die E****l herum und ... "Mir kommt’s gleich." Fred richtet sich auf. Er fährt mit seiner Hand noch vier-, fünfmal auf und ab und stopft ihn dann mitsamt dem klebrigen Zeug in die Hose. Ich schließe die Augen und lasse mich von ihm bedienen. Ich brauche nicht mehr lange und meine Gedanken setzen aus. Als ich wieder zu mir komme, hat Fred meinen S*****z immer noch im Mund. Nirgendwo klebriges Zeug. "Du hast es geschluckt?" Fred grinst. "Wir müssen los, sonst motzt Oswalda nur wieder herum." Wir ziehen uns an und fahren zurück. Ins Heim.



Katholisches Jugendheim Kempten (Allgäu) - Katholische Waisenhausstiftung - Gerhardinger Haus

An das Stadtjugendamt Kempten

Entwicklungsbericht für Stefan Strauch, geb. 20.07.69

Entwicklung:

Stefan ist in letzter Zeit nicht mehr gewachsen. Für sein Alter ist er groß, kräftig und robust, seine Figur ist sportlich. Der Gesundheitszustand ist gut.

Gespräche lassen sich mit ihm sehr gut führen, da er sich verbal sehr gut ausdrücken kann und über ein fachliches Wissen verfügt.

Die gute Beobachtungsgabe und Wahrnehmungsschärfe sind auffallend. Er überblickt alles im Vorübergehen, seien es Gespräche, Spielsituationen oder Veränderungen im Raum.

In Kleidung ist er völlig selbständig. Er duldet wenig Kontrolle durch den Erzieher.

In der Schule sind seine Leistungen gut. Eine besondere Begabung besitzt er in Mathematik und Rechnungswesen. In dieser Richtung liegt auch sein Berufswunsch. Da Stefan selbständig arbeitet, erfährt man von ihm wenig über die Schule.

Sozialer Bereich:

Stefan hat keinen festen Freund in der Gruppe. Er hat Schwierigkeiten, eine engere Beziehung einzugehen. Zu seinem Firmpaten geht er nicht sehr gern. Die Sommerferien verbrachte er jedoch dort, da er von seinem Vater abgelehnt wurde. In das Ferienhaus des Heimes wollte er nicht mit.

Stefan hätte gern in der Gruppe eine Sonderrolle, die ihm nicht mehr eingeräumt wird.

Zu den Kleineren hat er einen guten Bezug, übernimmt jedoch gern die Erzieherrolle.

Die anderen Gruppenmitglieder müssen tun, was er sagt.

Seinen Bruder Andreas läßt er spüren, daß er ihm überlegen ist.

Er kritisiert viel herum.

Allerdings zeigt er sich hilfsbereit und fleißig. Er hilft dem Hausmeister, führt Tätigkeiten im Haus aus und bäckt sehr gern.

Sport ist sein Hobby. Vor allem im Fußball ist er sehr zuverlässig. Von Seiten des Trainers gibt es keinerlei Klagen, er lobt ihn sehr.

Seine Freizeit gestaltet Stefan selbständig.

Kontakt zum Vater:

Wenn Stefan zu seinem Vater will, muß er zuerst bei ihm anrufen. Ist er nicht gewollt, zieht er sich zurück. Zu seiner Oma geht er nur noch selten.

Nach eigenen Aussagen fühlt er sich von seinen Angehörigen nicht angenommen.

Sr. Oswalda

Kempten, 10.10.1984



Radtouren

"Wir machen in den Pfingstferien eine Fahrradtour. Fährst du mit?" fragt mich Rupert. Er ist Lehrer und macht seinen Zivildienst in der zweiten Gruppe. "Keine Lust." "Los, raff’ dich auf. Sei nicht so schlapp." Er kitzelt mich. Ich wehre mich und er läßt mich wieder los. "Mein Fahrrad ist scheiße." "Komm, das macht bestimmt Spaß. Mal hier raus, was neues sehn. Peter und Manfred fahren auch mit. Und unsere beiden Christians und Wolfgang natürlich.

Wir sind eine Woche unterwegs. Füssen. Benediktbeuren. Kochelsee. Walchensee. Immer wieder halten wir an. Rupert will Fotos machen. Ich schaue weg. Wir fahren und fahren und fahren. Ich habe das Gefühl, es geht immer nur bergauf. Das Hinunterfahren vom Walchensee zum Kochelsee macht Spaß. Ich rase auf der breiten Straße den Berg hinab und fühle mich frei. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich in der Kurve einfach geradeaus fahren würde.

Wir übernachten in einer Jugendherberge. Alle in einem Zimmer. Zum Glück bin ich hundemüde. Auf dem Heimweg schneit es. Radtouren sind genau so schrecklich wie Bergtouren.

In den Sommerferien fahre ich jeden Tag nach Kempten ins Heim. Dem Hausmeister helfen. Bier trinken. Zigaretten rauchen. "Tun wa’s noch’n bißchen?" Jeden Abend kommt die gleiche Frage. Ich lasse es über mich ergehen. Immer noch besser als bei Oswalda im Höfle sein. "Es tut dir ganz gut, dem Hausmeister zu helfen" sagt Oswalda am Abend. Sie hat ja keine Ahnung.

Ich schlafe im Tummelraum, dem Spielzimmer der Kleinen, wenn es regnet. Hier habe ich meine Ruhe. Ich liege im Bett und hole mir einen runter. Jeden Tag. Wenn ich an Jungen denke, kommt es mir ziemlich schnell. Wenn ich an Helmut denke, wird mir flau im Magen. Es muß mir mit ihm doch auch Spaß machen. Sonst würde ich doch keinen Steifen kriegen. Ich drehe mich auf die Seite und ziehe mich zusammen. Tränen schießen heraus. Langsam, sehr langsam löst sich meine Verkrampfung. Ich liege wach und starre an die Wand. Morgen fahre ich wieder nach Kempten.

Verbündete

"Hilfst du mir abtrocknen?" Sieglinde steht in der Tür. "Oswalda ist mit den anderen im Hof." Bei Sieglinde macht abtrocknen wirklich Spaß. Wir lästern pausenlos über Oswalda. "Heute war Erzieherkonferenz. Es ging um dich. Sie wollen dich in ein Erziehungsheim stecken, wenn du so weiter machst. Also reiß’ dich in der nächsten Zeit zusammen!"

Erziehungsheim. Gitterstäbe an den Fenster. Eingesperrt. Das bin ich jetzt auch schon. Nur die Gitterstäbe fehlen. Alle Türen werden abend abgeschlossen. Auch der Fernsehschrank und die Küche. "Was sollen wir hier denn sonst machen?" Peter, Manfred und ich sind ein Team gegen Oswalda. "Spielt doch mal. Wir haben so schöne Spiele hier." "Ja, für kleine Kinder." "Denkt euch doch selbst mal was aus." "Warum können wir uns nicht wenigstens abends zusammen setzen und Tee trinken?" "Ich muß dann morgen wieder alles abspülen, die Ränder von dem schwarzen Tee sind kaum weg zu kriegen!" Wir sind alle stur und geben nicht auf. Fast immer schaffen wir es nach langer Diskussion, daß sie die Küche wieder aufschließt. Wenn sie sich dazu setzt, schweigen wir. Bis sie endlich geht. Wir erzählen Sieglinde davon. "Kann die lügen. Sie verschwindet immer gleich nach dem Frühstück mit den kleinen und ich kann dann abspülen." Am nächsten Abend haben wir ein Argument mehr. "Glaubt ihr, daß Sieglinde so gern euren Dreck wegräumt?" Glauben wir nicht. Seitdem waschen wir das Geschirr vor.

"Du sagst einfach, daß du bei deinem Vater bist." Barbara grinst verschwörerisch. "Das wird eine tolle Party." Peter und Manfred sind schon nach Hause zu ihrer Mutter. Offiziell. Ich gehe etwas später, damit es nicht auffällt. Zu meinem Vater. Offiziell. Schwester Oswalda kann man so schön verarschen. Kurz darauf fahren wir mit Barbara zu ihr nach Hause. "Huhuu!" Wir spielen Geister. Barbara wohnt zusammen mit Birgit aus der ersten Gruppe außerhalb der Stadt in einem alleinstehenden Haus. Es ist eine klare Nacht und der Mond spiegelt sich im Wasser. "Wenn Oswalda das wüßte. Drei Jugendliche bei zwei Erzieherinnen zu Hause." Barbara und Birgit lachen um die Wette. Und wir mit. Wir feiern. Ohne Grund. Wir drei Jungen schlafen im Wohnzimmer auf dem Boden.

Wasser läuft in mein Ohr. Ich brumme und drehe mich um. Barbara lacht neckisch. Jetzt habe ich keine Chance. Bevor ich nicht aufgestanden bin, wird Barbara keine Ruhe geben. Ich kenne sie. Ich trotte Richtung Klo und komme dann mit einem Gähnen in die Küche. Die anderen sitzen schon am gedeckten Tisch und lachen mich an. Ich fühle mich wohl hier. Ein bißchen Familie.

"Du bleibst sitzen, bis du aufgegessen hast." Der zweijährige sitzt mit Tränen in den Augen als letzter am Tisch. Oswalda packt einen Löffel voll und schiebt ihn in Florians Mund. Das Essen ist längst kalt. Florian weint. "Lassen sie ihn doch, wenn er nicht mehr essen mag" schreie ich Oswalda an. "Kümmere dich um deinen eigenen Kram" motzt Oswalda zurück und verschwindet endlich aus der Küche. "Spuks aus!" sage ich schnell zu Florian und werfe den kalten Fraß in den Abfall. Erleichtert rennt Florian nach draußen und kommt gleich darauf mit Oswalda zurück. "Ich habe aufgegessen" schluchzt Florian leise. Er lügt. "Das stimmt." Ich lüge auch. "Ihrem Jogile hätten sie wieder einen Pudding gekocht, wenn er den Fraß nicht mag." Für den gleichaltrigen Joachim gibt es immer eine Extrawurst. Er braucht nur loszuheulen, schon kümmert sich Oswalda um den armen, kleinen Jungen. "Er ist doch so krank!" sagt Oswalda fürsorglich tuend. "Kein Wunder, von dem ganzen Süßkram, dem sie ihm täglich reinschieben." Es macht Spaß mit ihr zu streiten.


In der neunten Klasse sitzt Hermann neben mir. Wir haben Rechnungswesen und er ist am verzweifeln. "Kannst Du mir nicht Nachhilfe geben?" Hermann ist der zweite in der Realschule der weiß, daß ich im Heim bin. Seine Mutter holt uns mit einem Mercedes nach der Schule ab. Wir halten vor einem Einfamilienhaus am Stadtrand. "Geht schon mal nach oben, ich rufe euch dann, wenn das Essen fertig ist." Hermann hat sein eigenes Zimmer mit Balkon. Ich muß mein Zimmer immer noch mit Michael und Jürgen teilen. Wenigsten kann ich meine Hausaufgaben in Ruhe im Zimmer machen. Wir lernen Rechnungswesen. "Das sah echt lässig aus, wie du in der siebten am ersten Schultag mit raushängendem T-Shirt, Jeans und Stiefeletten an deinen Platz geschlendert bist." "Das weißt du noch?" Hermann ist viel größer als ich. Und schlanker. Und unbehaart. Er hat eine Brille mit Rundumbügel. Damit er sie beim Volleyball spielen nicht verliert. Wenn wir gegen Hermann spielen haben wir keine Chance. Aber es macht trotzdem Spaß. "Kommt ihr runter, das Essen ist fertig!" Seine Mutter schaut zur Türe herein. Wir sitzen im Eßzimmer. Sein Vater ist Lehrer am Gymnasium. "Und, kannst du es jetzt?" Hermann schüttelt nur den Kopf. "Wenn du so weitermachst, schaffst du noch nicht einmal die Realschule." Ich spüre wie es Hermann weh tut. "Laß’ ihn, er bemüht sich doch" nimmt seine Mutter ihn in Schutz. "Ich habe es ja nicht so gemeint. Aber das muß man doch irgendwann begreifen." "Bei mir dauert es eben ein bißchen länger." Hermann klingt beleidigt. Ich sitze stumm daneben und starre auf meinen Teller. Warum streiten die. In einer Familie darf man doch nicht streiten. Nach dem Essen lernen wir weiter. Nachmittags bringt uns seine Mutter immer Kakao und Kuchen oder Plätzchen. Hermann hat einen kleinen Bruder. Sieben Jahre. Ich würde gerne mit ihm tauschen.

"Ich muß mit euch reden." Sieglinde macht eine Pause. "Barbara wollte sich letzte Nacht umbringen." Manfred und ich starren Sieglinde an. "Sie ist im Krankenhaus." Wir schweigen. Manfred setzt sich. Ich stehe da. Hilflos. Sich umbringen? Ich weiß, es ist eine Möglichkeit, aus dem Leben zu verschwinden. "Warum?" "Probleme mit ihrer Familie, aber auch wegen Oswalda." Oswalda. Oswalda konnte es nicht ertragen, daß wir uns auch mit der neuen Erzieherin verstanden, daß Sieglinde und Barbara sich nicht ausspielen ließen, daß die beiden schlauer waren als sie. "Oswalda darf nichts davon erfahren. Ihr dürft sie nicht darauf ansprechen. Kein Wort!" Es ist schwer, aber wir halten dicht und sagen nichts.

Ich sitze in der Schule. Religion. Bei Herrn Dorn. Er ist eklig. Er stinkt aus dem Mund und hat immer das gleiche braunkarrierte Jackett an. Ich sehe aus dem Fenster und träume vor mich hin. Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Träumen. "Dorn? Ja. Ja, ich schicke ihn runter." Er legt auf. Dreht sich zu mir um. "Du sollst ins Sekretariat kommen." Ich stehe auf und gehe. Ich habe ein komisches Gefühl, als ich anklopfe. Ich mußte noch nie ins Sekretariat. "Hier ist ein Anruf für dich." Ich nehme den Hörer. "Ja?" "Hallo Stefan, nicht erschrecken, hier ist Sieglinde, ich will heute zur Barbara nach Bad Wiessee fahren. Willst du mit?" "Ja." "Oswalda weiß Bescheid, ich hol’ dich dann gleich von der Schule ab, okay?" "Ja." "Wann hast du Schluß?" "Fünf nach elf." "Bis nachher, tschüs." "Ja." Ich lege auf. Die Sekretärin sieht mich fragend an: "Alles in Ordnung?" "Ja, ja!" antworte ich nur und gehe ins Klassenzimmer zurück. Immer noch Religion. Das Telefon klingelt noch mal. "Dorn? Ja, mache ich." Er legt auf. Es gongt. Endlich. Pause. Ich gehe raus. "Äh, Stefan!" "Ja?" "Ist wirklich alles in Ordnung!" "Ja." "Ganz bestimmt?" "Ja." Ich gehe.

Sieglinde wartet schon. Ich renne zu ihr und steige schnell ein. "Die wollten pausenlos wissen, ob alles in Ordnung ist." Ich fahre gern mit Sieglinde in ihrem riesen Audi 100. Es ist ein altes Taxi und voll gemütlich. Wenn sie den Motor anmacht, kommt eine große schwarze Wolke hinten heraus. Und es stinkt. Beim Anfahren macht der Diesel den vollen Lärm. Wir fahren los.

Vor ein paar Jahren hat sich ein Nachbarsjunge von Daniela und Sandra umgebracht. Ich sehe vor mir, wie der Junge an der Dachkante steht und hinunter schaut. Mitarbeiter des Kaufhauses kommen auf das Dach und wollen ihn zurückholen. Er springt. Der Schnee unter dem Kopf des Jungen verfärbt sich rot. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Niemand dreht den Jungen um. Notarzt. Krankenwagen. Er bleibt stehen. Sie operieren ihn gleich hier. Ein zweiter Krankenwagen kommt. Dann verwischen die Bilder. Der Junge ist tot. Er war damals so alt wie ich heute: fünfzehn. In der Zeitung stand: Die Mutter steht weinend am Grab. ,Der Junge hätte mit allen Problemen zu uns kommen können.’ Ich habe es nicht geglaubt. Mich umbringen. Ich habe oft daran gedacht. Möglichkeiten ersponnen. Dann wäre Oswalda mich los. Aber das gönne ich ihr nicht.

Wir fahren auf einen Parkplatz. "Eine kurze Pause." Ich öffne die Türe und sitze mit den Beinen nach draußen. "Willst Du auch einen Kaffee?" Ich nicke. Ein paar Minuten später kommt sie mit zwei weißen Bechern zurück. "Danke."

"Wie geht’s Barbara?" "Ihr geht’s schon wieder ganz gut. Sie macht hier eine Therapie." Wir sind da. Sieglinde kennt sich aus. Wir gehen durch eine Empfangshalle, kommen in einen kleinen Garten, gehen zwischen Häusern entlang. "Hier ist es." Wir klopfen an. "Ja?" tönt es von innen. Wir gehen hinein. Barbara kommt auf uns zu. "Hallo Stefan, toll daß du mitgekommen bist." "Na klar!" Sieglinde und Barbara umarmen sich. Barbara hat gar kein Nachthemd an. Wozu auch. Sie ist ja nicht krank. Wir bleiben den ganzen Nachmittag, lästern über das Heim und vor allem Oswalda. Barbara lächelt. Wie früher.

"Wir fahren um den Bodensee." Rupert grinst mich an. "Mein Fahrrad ist kaputt." Nicht schon wieder."Das kriegen wir schon wieder hin." Rupert läßt nicht locker. Wolfgang und ich fahren um die Wette. Ich überhole ihn und sehe plötzlich, daß der Teerweg vor mir zu Ende geht. Ich trete mit voller Kraft die Bremse und komme vor dem Kiesweg zum stehen. Mein Hinterrad dreht sich nicht mehr. "Wir rufen im Heim an, damit jemand kommt und mit dem Rad zur nächsten Werkstatt fährt" sagt Rupert nach einigen Fehlversuchen, daß Rad wieder in Gang zu bringen. "Ach, ich fahre einfach mit zurück ins Heim." "Nein, nein. Das geht schon." Rupert läßt mich nicht. Wir kommen am Bodensee an und bauen auf einem Zeltplatz unsere Zelte auf. Christian und Wolfgang. Manfred und Peter. Christian, Rupert und ich. Der Boden ist hart und alles ist feucht. Ich schlafe schlecht. Christian kenne ich vom Fußball her, aber Rupert ist für mich fremd. Wir spielen ab und zu mit ihm Fußball. Eigentlich ist er ganz okay. "Lächeln!" Klick. Rupert lacht und geht wieder zu den anderen. Ich falte das Zelt zusammen und schaue auf meine Beine. So mag ich sie schon eher. Vor der Radtour habe ich sie mit Andreas’ Rasierklinge rasiert. Aber es juckt. Wir frühstücken am Boden und fahren dann den ganzen Tag am Ufer entlang. Am späten Nachmittag fängt es an zu regnen. Wir suchen den nächsten Zeltplatz und bauen unsere Zelte auf. Am nächsten Morgen ist es bewölkt. "Es wird sicher aufheitern" sagt Rupert zuversichtlich. Wir fahren los und bald fängt es wieder an zu regnen. Irgendwann schüttet es aus Eimern. Wir stellen uns unter und beratschlagen, was wir tun sollen. "Am besten ist wohl, wir nehmen die Fähre nach Lindau und fahren auf dem schnellsten Weg zurück." Alle stimmen Rupert zu. "Ein Bild noch" meint Rupert und wir stellen uns auf. Ich knie am Boden und sehe auf das Wasser. Mit der Fähre fahren wir dem Regen davon.



Katholisches Jugendheim Kempten (Allgäu) - Katholische Waisenhausstiftung - Gerhardinger Haus

An das Stadtjugendamt Kempten

Entwicklungsbericht für Stefan Strauch, geb. 20.07.69

Stefan besucht die 9. Klasse der Staatlichen Realschule Kempten. Die Kontakte zum Lehrer und zu den Mitschülern sind recht gut. Seine Hausaufgaben erledigt er selbständig und gewissenhaft. Seine intellektuelle Begabung weiß er und geht mit Zielstrebigkeit und Klarheit seinem Berufswunsch als Speditionskaufmann entgegen.

Da er im Rechnungswesen recht gut ist, interessiert er sich auch für den Beruf als Bankkaufmann. Er hat sich bereits mehrfach beworben.

Das letzte Schulzeugnis hat Stefan gleich dem Jugendamt vorgelegt, wir haben keine Einsicht erhalten.

Stefan hat viele Interessen und eine positive Einstellung zu sich selbst. Er ist ein Fußballfan und geht regelmäßig ins Training. Dort ist er beliebt und wird stets gelobt.

Am Klavierspielen, das er sich selbst beigebracht hat, hat er große Freude.

In der Gruppe hat Stefan keinen richtigen Freund. Es fällt ihm schwer, sich in einer Gruppe und im Heim einzuordnen. Er zieht sich viel in sein Zimmer zurück.

Mit dem Hausmeister versteht sich Stefan sehr gut. Er hilft ihm gerne, arbeitet dabei geschickt und fleißig. Er ist stets anständig und zuverlässig. Beim Zurückkommen von solchen Hilfeleistungen wirkt er ausgeglichen.

Der Gruppenleitung gegenüber legt er gelegentlich anmaßendes Verhalten an den Tag. Da wird er oft provokativ bei Gesprächen.

Die Wochenenden verbringt Stefan meist im Heim. Nur wenn er vom Vater gewünscht ist, geht er nach Hause. Der Vater gerät öfters in Konflikt mit ihm wegen seines selbstbewußten und fordernden Verhaltens.

Stefan weiß, daß er von der Frau seines Vaters nur geduldet ist und meint auf niemand angewiesen zu sein.

Das Verhältnis zu seinem Bruder Andreas ist nicht sehr gut.

Sr. Oswalda

Kempten, den 24.04.1985



Geburtstag

Irgendwann bin ich einfach nicht mehr hingegangen. Jetzt stehe ich wieder an der Haustüre von meinem Vater und klingle. Ich schwitze. "Ach du bist’s." Seine Frau schaut kurz aus dem Fenster und öffnet die Türe. "Komm rein, dein Vater kommt auch gleich." Ich sitze da und warte. Wir schweigen. Seine Frau schaut aus dem Fenster. "Wir haben Besuch" sagt sie nach draußen. "Was?" klingt es dumpf herein. "Ah, hallo Sohnemann. Was verschafft uns die Ehre." "Hier, zum Geburtstag" sage ich kurz und halte ihm ein Geschenk hin. "Oh, danke." "Ich muß gleich wieder los" und gehe in den Flur und ziehe meine Schuhe wieder an. In der Küche sagt seine Frau: "Lade ihn doch am Samstag zu deiner Geburtstagsfeier ein." "Wenn du willst, kannst du ja kommen. Um zwölf gibt’s Mittagessen. Ruf’ spätestens Freitag an, wenn du kommen willst, dann kauft Lore am Samstag mehr ein." "Ich komme!"

Wir fahren zur Halbschwester seiner Frau. Eine Frau mit Krauslocken öffnet und bittet uns herein. Sie hat nur einen Arm und hilft uns trotzdem beim Jacke ausziehen. Dann geht sie in die Küche um trocknet weiter ab. Dabei klemmt sie sich den Teller unter den Armstummel und dreht ihn dann durch das Handtuch. Ich schaue ihr dabei zu. Sie redet mit mir, als ob ich hierher gehöre. Ihre Kinder sind auch da. Alle haben italienische Vornamen. Ihr Vater ist Italiener und macht pausenlos Witze. Ich beobachte meinen Vater, wie er mit Bebbo herumalbert. Und seine Frau, wie sie mit Inge redet und lacht. "Er wächst und gedeiht. Die Jugend ist heute weiter als wir damals." Seine Frau ist plötzlich so freundlich zu mir. "Ja, ja, wir sind mächtig stolz auf ihn. Nächstes Jahr macht er seinen Realschulabschluß" sagt mein Vater und legt seinen Arm auf meine Schulter. Das hat er noch nie gemacht. Ich bin stolz. Irgend etwas hat sie verwandelt.

Für ein paar Stunden glaube ich, ich habe wieder ein Zuhause. Ich fühle mich richtig gut hier und finde es schade, daß wir schon wieder gehen. Wir fahren zu meinem Vater und seiner Frau. Wir sitzen vor der Glotze. Ich bin müde und gehe schlafen. Trotzdem bin ich noch eine Weile wach. Ich schlafe erst ein, als in der Küche das Licht aus ist.

Sie sind freundlicher jetzt. Wenn ich Samstag komme, lächelt seine Frau auch schon mal. Mein Vater erzählt von seiner Arbeit. Manchmal fahre ich mit ihm zu seiner Firma, wenn er noch etwas erledigen muß.

Ich gehe jetzt wieder jedes zweite Wochenende zu ihnen. Samstag um Punkt 12 gibt’s Mittagessen. Nachmittag spazieren gehen. Kaffee und Kuchen. Fernsehen. Abendbrot. Fernsehen. Schlafen. Sonntag frühstücken. 12 Uhr Mittagessen. Die Fußballspiele sind jetzt immer am Sonntag Vormittag. Deshalb komme ich jetzt meistens zu spät. Mein Vater und seine Frau haben dann immer schon gegessen. Ich esse schnell auf und erzähle ihnen kurz vom Spiel. Nachmittags spazieren gehen. Kaffee und Kuchen. Fernsehen. Abendbrot. Zurück ins Heim. Irgendwann werde ich hier bleiben können.

Noch ein Jahr

"In den Sommerferien höre ich hier auf zu arbeiten." Sieglinde schaut mich an. "Das kannst du doch nicht machen! Erst Barbara, jetzt du. Peter und Manfred kommen im Sommer auch aus dem Heim raus. Dann bin ich ganz alleine mit der." "Ich bekomme ein Baby." Ihre Augen glänzen. "Danach werde ich zu Hause bleiben." Wir umarmen uns kurz. "Ja, kann ich gut verstehen. Jeder will hier raus."

Andreas ist auch schon weg. Er ist ausgelernter Bäcker. Als er aus dem Heim auszog, bekam ich sein Zimmer. Endlich ein Zimmer ganz für mich allein. Statt dem dritten Bett stelle ich den Tisch in die Ecke. Das Sofa bleibt und wird meine neue Ablagefläche. Andreas ist weg und es war für mich ein Abschied, wie bei jedem anderen Heimkind auch. Das Heim hat Fremde aus uns gemacht. Ich sehe die Fotoalben unserer Mutter an.

,Der immer höfliche und zuverlässige Schüler erfreute durch sein sehr gutes Betragen ...’ Ich bin ein bißchen stolz auf mein Zeugnis. "Ich brauche dein Zeugnis, damit wir es dem Jugendamt zum unterschreiben geben können." Das hätte Oswalda gern. Am Nachmittag gehe ich zu meinem Vormund. "Ich mache nur noch eine Kopie für die Akten" sagt Herr Nock und verschwindet für einen Augenblick. "Ist noch was?" "Ja, ich will aus dem Heim raus. Ich halte die Oswalda nicht mehr aus. Ich will ins Stellamaris." "Das halte ich für keine gute Idee, ein Jahr vor deinem Schulabschluß." "Sie wissen ja gar nicht was im Heim abläuft. Oswalda schlägt dem Salvatore eine blutige Nase, wenn sie ihn morgens aus dem Bett holt. Nur weil er reinmacht. Finden sie das okay." "Ich weiß, Schwester Oswalda hat mit größeren Jungen Probleme. Sie hatte früher nur kleine Mädchen." "Sie können doch was machen." "Es ist schwierig. Wenn wir was unternehmen, zieht das Mutterhaus vielleicht die Schwestern ab. Und die Schwestern kosten uns nichts." "Ich will nicht mehr im Heim bleiben!" "Ich mache dir einen Vorschlag: Du machst den Realschulabschluß und wenn du in die Lehre kommst, kannst du in eine eigene Wohnung ziehen." "Das ist noch ein Jahr!" "Ja." "Und nach dem Jahr darf ich raus, versprochen?" "Versprochen!"

"Dieses Jahr fahren wir alle nach Italien." Schwester Oswalda strahlt übers ganze Gesicht. "Kann ich nicht hierbleiben?" "Nein. Die Küchenschwester fährt zur Schwester Huberta, die kennst du doch noch?" "Ja. Aber ich kann doch dem Hausmeister helfen." "Helmut fährt mit, als männlicher Erzieher!" Ich gebe auf und packe meine Sachen. Alle, die kein Zuhause haben sitzen im Bus. Martina und Ulrike sitzen neben mir in der letzten Reihe. Wir sind die ältesten und auch am längsten im Heim. Wir albern herum. Ich kann gut Witze reißen. Ulrike hält sich an meiner Schulter fest und kriegt sich nicht mehr ein. Martina wird ganz rot vor lachen. Wir sind nachts losgefahren und müßten hundemüde sein. Trotzdem sind wir total aufgedreht.

Die Morgensonne scheint schräg in den Bus und blendet mich. Zwei Wochen Italien. Eigentlich müßte ich mich freuen. "Wir sind da!" schreit irgendwer von weiter vorn. Der Bus hält vor einer Anlage mit kleinen Bungalows. "Ihr kleinen bleibt bei mir." Oswalda hat Mühe, die Kleinen zusammen zu halten. Die Anmeldeformalitäten sind gleich erledigt und wir gehen auf den Platz mit den kleinen Häuschen. Vier Häuser. Zwei Schwestern. Ein Fräulein. Noch ein Fräulein. Helmut. Wir werden aufgeteilt. "Du bist bei mir, du bei Fräulein Claudia, du bei Helmut, du bei Fräulein - Jetzt langt’s mir dann schon gleich!" Schwester Oswalda wird sauer, weil keiner so recht aufpaßt. Alle rennen umher und wollen endlich zum Meer. "Du bist bei Helmut mit den drei Buben aus der ersten" sagt Oswalda zu mir. "Du bist der Älteste, also schau auch ein bißchen auf die Kleineren." Wir gehen in den Bungalow. Ein Küchen-Eßzimmer-Aufenthaltsraum. Ein Duschklo. Ein Schlafzimmer mit einem dreistöckigen Bett. "Hier schlaft ihr" sagt Helmut zu Dennis, Gottlieb und Alex. Ein Schlafzimmer mit zwei Betten nebeneinander. "Hier oder hier." Helmut zeigt auf die beiden Betten. "Ist mir egal." Mir wird flau im Magen. Nur raus hier.

Florian läuft ungeduldig vor mir her. "Wie lange noch?" will er pausenlos von mir wissen. Florian tut mir leid. Er ist jetzt drei. Ich war wenigstens schon sieben. Er wird noch länger im Heim sein als ich. Endlich sind wir am Meer. Wir legen unsere Handtücher in den Sand und rennen ins Wasser. Wir toben, spritzen uns naß, lachen, tauchen uns gegenseitig unter. Helmut steht am Strand und sieht zu. Ich lege mich in die Sonne und schlafe ein wenig. Als es langsam dunkel wird, gehen wir zurück zu den Bungalows. Nach dem Essen müssen die Kleinsten ins Bett. Um zehn gehen auch die anderen dann so nach und nach ins Bett. "Ihr seid jetzt ruhig und schlaft. Stefan und ich sitzen vor der Türe!" Nach ein paar Minuten ist Ruhe bei den dreien. "Gehen wir noch ein bißchen spazieren?" fragt mich Helmut. Wir gehen durch die Nacht. "Willst du noch was trinken?" "Ich habe nicht so viel Geld." "Ich habe genügend dabei" versichert er mir. Wir setzen uns ins Freie. "Una litre vino rosso!" Der Kellner hilft uns bei der Formulierung. Wir trinken Rotwein und rauchen Zigaretten.

Müde gehe ich neben Helmut zurück zu den Bungalows. Überall ist schon das Licht aus. Ich suche in der Küche nach Essig, reibe meinen Körper damit ein und stelle ein Schälchen auf das Nachtkästchen. "Puh, stinkt das" sagt Helmut, als er ins Zimmer kommt. "Wegen der Stechmücken" antworte ich und gähne. Ich war zu langsam. Schnell ziehe ich meine Badehose aus und meine Boxershorts an. Steige ins Bett. Decke mich zu. Drehe mich zur Wand. Helmut sitzt auf seinem Bett und raucht noch eine Zigarette. Meine Matratze sinkt hinter mir ab. Ich drehe meinen Kopf und sehe Helmut an meinem Bett sitzen. "Tun wa’s noch’n bißchen?" "Ich bin müde." Er legt sich neben mich ins Bett und dreht mich auf den Rücken. "Ach komm, nur ganz kurz." "Ich will schlafen." Er deckt das Bett auf. Ich liege unbeweglich da. Seine Hand gleitet in meine Hose. Nicht steif werden, bitte, nicht steif werden. Ich habe die Augen geschlossen. Aber mein Körper macht nicht das, was ich ihm sage. Ich hasse meinen Körper. Helmut fängt an zu reiben. "Machs bei mir auch." "Ich bin zu müde." Hoffentlich wachen die nebenan nicht auf. Ich schäme mich. Helmut sagt jetzt nichts mehr. "Kommt’s dir schon?" "Nein." Er hört nicht auf. Ich fühle nichts mehr. Konzentriere mich nur noch auf meinen S*****z. Komm endlich. Er läßt mich los. Er wischt sich seinen S*****z ab und reibt dann bei mir weiter. Ich schalte mein Gehirn aus. "Jaah" flüstert Helmut. Mein S*****z muß wohl gekommen sein. Ich drehe mich wie ich bin um und starre an die Wand. Helmut sitzt wieder auf seinem Bett und raucht. Meine Augen tränen. Aber es ist nicht der Qualm.

Nach zwei Wochen fahren wir zurück. Endlich. Auf der Rückfahrt schlafe ich die ganze Zeit. "Ja, ja. Das kommt davon, wenn man die ganze Nacht umher streunt." Oswalda grinst mich blöde an. "Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe." Ich nehme meine Tasche und verschwinde in mein Zimmer.

Ich sitze im neuen Klassenzimmer. Aus der letzten Klasse sind nur sechzehn weiter gekommen. Fünfzehn sind sitzengeblieben. Auch Hermann. Rechts hinten sitzen die fünf Wiederholer der zehnten. "Nach der Schulordnung müssen die Lehrer jetzt sie zu ihnen sagen" sagt Herr Lill, unser neuer Klassenlehrer. Einige kichern. "Das ist doch albern. Drei Jahre lang duzen sie uns und jetzt müssen sie plötzlich sie zu uns sagen" sagt einer und andere stimmen murmelnd zu. "Also, wenn niemand etwas dagegen hat, dann sage ich weiterhin du zu euch." Niemand meldet sich. "Okay, willkommen in der letzten Klasse." Wir bekommen unsere Bücher. Den Stundenplan. Den stinkenden Dorn in Englisch und Religion. Die Prüfungstermine. "Ihr solltet euch bald überlegen, wohin ihr eure Abschlußfahrt machen wollt." "Berlin!" tönt es durch den Raum. "Abwarten."

Ich streite mich nicht mehr mit Oswalda. Wenn sie kommt, gehe ich. Die meiste Zeit verbringe ich in meinen Zimmer. Mache dort meine Hausaufgaben, lese Bravo, male Straßen, die nirgendwo hinführen. Hier habe ich meine Ruhe. Oswalda klopft jetzt sogar an. "Ich bin fertig mit spülen" und verschwindet wieder. Es ist, als hätten wir eine stillschweigende Abmachung getroffen: Wir reden nur das allernötigste und gehen uns sonst aus dem Weg. Von Helmut habe ich einen kleinen Tischfernseher bekommen. Jetzt muß ich nicht einmal mehr ins Wohnzimmer zum fernsehen.

Ich fahre mit meinem Vater zu seiner Firma. Vorstellungsgespräch. Ich bin nervös. Der Chef sitzt hinter seinem riesigen Schreibtisch und erzählt mir von der Spedition. Er fragt mich kaum etwas. "Es ist ja gut, daß dein Vater hier arbeitet." Ich komme mir klein und dumm vor. Nach zehn Minuten komme ich in die Halle zu meinem Vater. "Wie ist’s gelaufen." "Er nimmt mich." "Ja, das hat er mir vorher auch schon gesagt."

"Hast du auch was für Lore?" fragt mich mein Vater, als er mich Heilig Abend mit dem Auto abholt. "Nein." "Warum nicht?" "Sie ist nicht meine Mutter" sage ich nur beiläufig. "Das ist aber nicht nett. Sie gibt sich solche Mühe mit dir. Kocht und wäscht. Eine kleine Anerkennung hat sie schon verdient!" Ich zucke mit den Schultern. "Ich will sowieso noch zum Tanken und dann kaufen wir ihr im Feneberg-Center noch was." Ich nicke.

"Hier, für dich. Und danke für alles." Ich reiche seiner Frau die Blumen. Sie packt sie aus und scheint sich echt darüber zu freuen. Mein Vater bekommt ein Zigarettenetui. Darin habe ich eine leere Zigarettenschachtel bemalt: ,Ente 23’ seht drauf. Er will seine Zigarettenschachtel hineinstecken, aber das Etui ist zu klein. Er popelt, bis er sie endlich etwas gequetscht hinein bekommt. Peinlich. Ich bekomme eine silberne Halskette mit einem Sternzeichen-Anhänger. Ein Krebs in einem Kreis. Wir essen zu abend und sehen fern. Mein Vater sitzt im Unterhemd da. Er hat auch eine Halskette. Mit einem Stier. "Ist dir nicht warm?" Lore heizt die Küche mit Kohlen und es ist immer total heiß hier drin. "Ja, schon." "Dann zieh’ doch deinen Pullover aus" sagt seine Frau. Meine Unterhemden sehen nicht besonders gut aus. Aber mir läuft der Schweiß unter den Achseln herunter. In Unterhemden schauen wir fern. Mein Vater und ich.

"Du fragst dich sicher, warum du nicht bei uns wohnen kannst." Ich sehe seine Frau an und nicke. "Weißt du, die Wohnung ist einfach zu klein. Übers Wochenende geht das ja immer. Aber sonst ist es hier zu eng." Ich nicke nur. Ich lese Zeitungen. Eigentlich nur die Witze. Sonst sind da fast nur nackte Frauen. Oder die Fernsehzeitung. Mein Vater kommt wieder zurück. "Wir können los" sagt er kurz. Mein Vater und ich fahren alleine weg. "Ich mache Frühjahrsputz. Da kann ich euch nicht brauchen."

Wir fahren über eine schmale Landschaft in ein kleines Dorf. Irsee. Vor einem Bauernhof halten wir. "Hier bin ich aufgewachsen." Wir gehen durch das Dorf. Mein Vater erzählt mir von früher. Ich höre zu. Wir fahren nach Kaufbeuren. "Hier habe ich früher mal gewohnt. Heidi wohnt immer noch hier. Du kennst doch Heidi?" "Ja." Mit meiner Oma habe ich sie mal besucht. Ich sehe eine blonde Frau mit langen Haaren, schwarzer Lederhose und schwarzer Bluse vor mir. Meine Halbschwester. Wir sitzen in einem Café und essen Kuchen. "Warum besuchen wir sie nicht?" "Es ist schon zu spät."

"Seht ihr Heidi noch ab und zu?" frage ich meinem Vater beim Abendbrot. "Seit sie das Auto von deiner Oma bekommen hat, meldet sie sich nicht mehr" antwortet seine Frau.

"Wir haben abgestimmt. Alle wollen nach Berlin." Herr Lill holt tief Luft. "Das geht nicht. Die Klasse von Herrn Dorn fährt nach Kulmbach und die anderen fahren nach Bonn." "Warum fragen sie uns dann erst" beschweren wir uns. "Das ist alles nicht so einfach. Überlegt es euch. Kulmbach oder Bonn."

Mit der 10c fahren wir nach Bonn. Wir kennen uns kaum. Haben keine gemeinsamen Fächer. In Rüdesheim machen wir einen Zwischenstop und schauen uns das Asbach-Werk an. Am Schluß kommen wir in einen Raum mit einer langgezogenen Theke. "Jeder nur ein Glas!" "Ja, ja." Wir trinken drei oder vier Gläser. Martin, Bozo, Harry und ich. Wir haben uns angefreundet, obwohl sie eigentlich die neuen in unserer Klasse waren. Eines Tages habe ich mich einfach nach hinten neben Martin gesetzt. ,Es dient der besseren Verständigung zwischen den ehemaligen Klassen’ habe ich gesagt. Aber ich saß nicht lange hinten. Martin und ich haben zu viel gequatscht. In einem Vorort von Bonn ist die Jugendherberge. Wir erzählen Witze und dichten fiese Sachen über unsere Lehrer. Mitten in der Nacht bewerfen wir uns im Flur mit Würstchen. Nach dem dritten Auftauchen unserer Lehrer ist endlich Ruhe.

Wir fahren nach Bonn und tragen unsere Dichtkünste im Bus über Lautsprecher vor: "Alle sitzen am Tisch und trinken Bier, nur nicht Moll, der ist schon voll. Alle haben ober einen Kopf, nur nicht Frau Nickel, die hat ‘nen Pickel." Der Bus grölt. Die Lehrer schütteln nur ihre Köpfe. Bei der Sightseeing-Tour durch das Botschaftsviertel schlafen die meisten. Abends fahren wir nach Köln. "In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier am Bus." Martin, Bozo, Harry und ich ziehen ab und gehen in die nächste Pizzeria. Wir bestellen jeder eine Pizza und ein Kölsch. "Ich bin noch nicht satt." "Ich auch nicht." Wir rufen den Kellner: "Das gleiche noch mal!" Wir lachen uns kaputt. Der Kellner lacht irritiert aber wir bleiben dabei: "Das gleiche noch mal, kein Witz." Wir lachen und johlen. Der Kellner ist von uns wenig begeistert und als er ein Tablett mit Bierflaschen fallen läßt, hält uns nichts mehr.

Abends gehen die meisten ins Fußballstadion. Wir gehen mit einer Lehrerin in ein irisches Pub am Ufer vom Rhein. "Dürfen wir rauchen?" "Ich will das nicht gesehen haben." "Dann schauen sie doch mal eine Weile in die andere Richtung." Sie ist nett und läßt uns rauchen. Eine Liveband spielt und es macht richtig Laune.

Englisch. Herr Dorn will mich ausfragen. "Ich habe nicht gelernt" sage ich kurz. Er schüttelt den Kopf und trägt eine Sechs ein. In der nächsten Englischstunde das gleiche. "Wollen sie mir die Englischnote vermiesen?" frage ich ihn gereizt. Herr Dorn sieht mich völlig überrascht an. "Wie willst du denn das Jahr bestehen?" "In der Abschlußprüfung schreibe ich eine drei. Macht eine vier. Ganz einfach." Herr Dorn sieht mich verwundert an, fragt mich aber nicht mehr aus.

Ich bin Klassensprecher und gehe zum Direktor. "Können wir Maschinenschreiben nicht ausfallen lassen, die Schreibmaschinenprüfung ist ja schon vorbei." Der Direktor sieht mich entgeistert an. "Dann hätten wir mehr Zeit zum Lernen für die Abschlußprüfung." Er nickt verächtlich. "Dann gehen ja doch alle nur zum Baden." "Sicher gehen viele zum Baden, aber wenn es nur einen für die Prüfung hilft, hat das schon einen Sinn gemacht." Der Direktor überlegt. "Ich werde mit Frau Rey sprechen." "Danke." Schreibmaschine fällt für den Rest des Jahres aus.

"Wie abgesprochen, bei Mathe und Rechnungswesen sitze du vor mir und läßt mich abschreiben. In Englisch sitze dann ich vor dir." Martin und ich stehen vor dem großen Prüfungssaal. Es ist der gleiche Raum wie damals in der siebten Klasse.

"Willst du noch nicht abgeben?" fragt mich eine Aufsicht. "Nein, ich will es lieber noch mal nachrechnen." Martin ist noch nicht fertig. Also warte ich. Am ersten Tag haben wir Mathe. Am zweiten Rechnungswesen. Mir ist langweilig, aber ich warte auf Martin. Der Lehrer hat schon zweimal meine Blätter zusammengeschoben, die ich auf meinem Tisch verbreitet habe. "Ich habe sonst keinen Überblick!" Der Lehrer nickt und geht weiter. Am dritten Tag haben wir Englisch. Martin sitzt jetzt vor mir. Keiner merkt was. Bei Deutsch schreiben wir nicht voneinander ab. Das würde auffallen.

"Na, wie ist es gelaufen" fragt mein Vater, als ich Samstag Mittag um fünf vor zwölf klingle. "Ganz gut, glaube ich." "Was macht deine Wohnungssuche?" will seine Frau wissen. "Bis jetzt gar nichts." Ich war noch einmal im Jugendamt und Herr Nock hält sein Versprechen. Ich muß nur selbst eine Wohnung finden. Mein Vater kramt die Zeitung heraus und sucht die Wohnungsanzeigen. "Hier. Ein möbliertes Zimmer mit Dusche, 250 Mark. Soll ich anrufen?" "Ja!" Nach dem Mittagessen fahren wir zur Bäckerei Wipper. Eine dicke Frau sitzt in einem Hinterzimmer am Schreibtisch und zählt Geld. "Wir haben vorher telefoniert" sagt mein Vater zu ihr. "Ja. Kommen sie nur gleich mit. Die erste eigene Wohnung für den Sohn?" "Ja" sage ich stolz. Wir gehen nach oben in den ersten Stock und kommen in ein kleines Zimmer. Ein Bett mit Kasten darunter. Ein Tisch. Zwei Stühle. Ein Kühlschrank. Darauf zwei kleine Herdplatten. Ein Waschbecken. Wenn ich meine Hände nach oben halte, kann ich die Decke berühren. "Gefällt es dir?" "Ja." "Die Dusche mußt du mit den Bäckern teilen. Die duschen aber immer erst mittags." Nach ein paar Minuten habe ich meine erste Wohnung.

"Was habe ich ihnen gesagt? Ich schreibe eine drei in der Abschlußprüfung." Herr Dorn sieht mich merkwürdig an. Die Prüfungsergebnisse werden bekanntgegeben. Alle haben bestanden. Am Morgen gehe ich in die Schule und kopiere noch meine Schülerzeitung. "Es hat hier noch nie eine Schülerzeitung gegeben. Aber ich habe keine Zeit." Der Hausmeister verschwindet wieder. Ein Lehrer kommt und hilft mir. Nach einer Stunde habe ich einen Packen Papier unterm Arm und gehe wieder ins Heim. Thomas, der Klassensprecher der 10e, hilft mir beim zusammen tackern. Es ist eigentlich keine Schülerzeitung. Nur Reime über die Lehrer und die Schüler in unseren zwei Klassen. Mittags gehe ich wieder in die Schule. In der Aula spielt eine Band mit Trompeten. Reden werden gehalten. Wir bekommen die Abschlußzeugnisse und ich verteile noch schnell meine Zeitung. Das war’s dann wohl und gehe zurück ins Heim.

"Und?" Oswalda kommt mir mit entgegengestreckten Händen entgegen. "Wie ist dein Abschlußzeugnis?" "Das geht sie gar nichts an." Und verschwinde in meinem Zimmer.

Ich habe meine ganzen Sachen in eine riesige Holzkiste gepackt. Helmut fährt sie in meine Wohnung und hilft mir beim Tragen. Zum Mittagessen sind wir zurück. "Kommst du noch mit zum Burghaldefest?" will Oswalda wissen. "Nur kurz." Das gesamte Heim ist auf dem Weg dahin. Ich laufe mit Abstand hinterher. Eigentlich bin ich ja schon draußen.

"Ich gehe jetzt" sage ich zur Oswalda. Sie hält meine Hand fest. "Es war zwar nicht immer leicht, aber irgendwie ist es schon schade, daß du uns jetzt verläßt." Ich ziehe meine Hand zurück. "Tun sie nicht so. Wir sind beide froh, daß ich aus dem Heim raus bin." Sie schaut mich an und ich gehe.