Hallo!

Wer immer du auch sein magst, du bist auf der Seite, auf der ich meine Geschichte aufgeschrieben habe. Es ist mir schwer gefallen und es hat sehr weh getan, aber es hat mir sehr geholfen, die Geschichten der Menschen zu lesen, die den Mut hatten, sie im Internet zu veröffentlichen - ich habe die Hoffnung, daß meine Geschichte auch jemandem helfen kann, nur aus diesem Grund steht sie hier. Ich bitte dich um zwei Dinge: Behandle diese Geschichte bitte mit Achtung, sie ist ein verletzbarer Teil von mir. Und - bitte - kein Mitleid. Mitleid macht mich wieder klein und das bin ich nicht mehr. Wenn du selbst weißt, wovon ich hier schreibe, dann hast du keinen Grund, mich zu bemitleiden und wenn du es nicht weißt - sei dankbar und verirre dich nicht in einer Welt, die nicht die deine ist. Wenn du Kontakt mit mir aufnehmen möchtest, kannst du das unter thommysplace@gmx.net tun.

Eines noch: Überleben ist entscheidend, aber es ist nur der erste Schritt zum Leben!

Steven, ein ganz großes Dankeschön an dich! Es macht mich sehr stolz, auf deiner Seite zu Gast sein zu dürfen!
 
 

Ich weiß nicht mehr viel aus der Zeit vorher. Ein paar Bilder aus dem Kindergarten, aus der Schule, nicht viel, kurze Szenen. Aber Bilder mit Lachen und freundlichen Augen und Lachen in mir.

Er war ein Verwandter, er wohnte im gleichen Haus. Wir fuhren damals übers Wochenende zu entfernten Verwandten und wir schliefen zusammen in einem Zimmer. Ich weiß nichts über das, was gesagt worden ist, ob er überhaupt was gesagt hat, es ist wie ein Film ohne Ton und ein Film mit Lücken, wie bei einem Stroboskop-Licht. Bruchstücke, wie Glasscherben. Er trug eine graue Hose und ich kann den Stoff immer noch auf meinem Gesicht fühlen. Ich verstand es einfach nicht. Ich kann meine Hände sehen und ich kann sehen, was sie tun und es ist, als würden sie zu jemand anderem gehören. Ich wußte, daß es falsch war, aber es konnte doch nicht falsch sein, ich konnte ihm immer vertrauen. Dachte ich. Als er fertig war, dachte ich, er hätte mir ins Gesicht gepisst. Er hat gelacht. Ich bin dann ins Badezimmer gegangen, um mich zu waschen und als ich den Spiegel geschaut habe, da habe ich mich erschrocken, es war, als würde ich einen Fremden sehen.

Als wir wieder zu Hause waren, habe ich gewartet, bis alle anderen weg waren und bin dann zu meiner Mutter gegangen. Ich wollte ihr erzählen, was passiert war, aber ich fing an zu weinen und konnte nichts sagen. Sie hat mir ins Gesicht geschlagen und gemeint, daß ich zu alt wäre, um zu weinen. Ich war sieben.

Es passierte nicht oft, nur dann, wenn alle anderen weg waren und auch dann nicht immer. Aber es wurde jedes Mal schlimmer. Ich wurde ja langsam zu einem "großen Jungen" und konnte ihm ja immer mehr "helfen". Ich sah ihn jeden Tag und er war freundlich und aufmerksam und ich hab manchmal gedacht, er wäre zwei Personen, eine, die mich lieb hatte und die andere, vor der ich so viel Angst hatte.

Natürlich hätte ich jemandem sagen können, was passierte, aber wem denn? Meine Mutter war nur dann mit mir zufrieden, wenn sie mich nicht sah und mein Vater war nie jemand, den es interessiert hätte, wie es mir geht. Meine Rettung war die Schule, da brauchte ich keine Angst zu haben, allerdings war ich nicht gut in der Schule. Ich träumte viel zu viel und ich dachte, wenn ich es mir nur intensiv genug wünschen würde, daß ich nicht mehr nach Hause müßte, dann würde es vielleicht klappen. Wir sahen einmal einen Film, da ging es darum, wie man sich im Straßenverkehr benehmen muß und die Lehrerin meinte dann, daß Kinder, die nicht nach rechts und links schauen, bevor sie eine Straße überqueren, vielleicht nie wieder nach Hause kämen. Ich war so aufgeregt, daß ich gedacht habe, das müßte wohl irgendein Zauber sein und ich habe genau aufgepaßt und nicht nach links und rechts geguckt, als ich an dem Tag über die Straßen ging. Als ich dann trotzdem zu Hause ankam war ich unheimlich enttäuscht und habe dann begriffen, was die Lehrerin gemeint hatte. Aber ich hatte jetzt einen Ausweg und das war irgendwie ein gutes Gefühl. Es gab mir Kraft und ich träumte nicht mehr so viel. Ich fing an, auch mit anderen Kindern zu spielen, sie zu besuchen und ich lernte eine andere Welt kennen, die nicht meine Welt war.

Zuhause wurde es erst mal schlimmer, meine Eltern fingen an, mich ziemlich regelmäßig zu schlagen, egal, ob ich nun einen Fehler gemacht hatte oder nicht. Es tat entsetzlich weh, es waren doch meine Eltern und irgendwann beschloss ich, daß es nicht mehr meine Eltern waren.

Die Vergewaltigungen gingen weiter, aber er wurde krank, wahrscheinlich wußte er, daß er sterben mußte. Das letzte Mal tut furchtbar weh, und ich hab nur noch ins Kissen geschrien, bis er dann aufgehört hat.

Ich dachte, alles wäre vorbei, als er tot war. Ich hab mich so wahnsinnig gefreut, aber ich hatte ja immer noch meine Eltern und die konnten wirklich brutal werden. Und er war immer noch in meinem Kopf. Immer wieder war ich plötzlich mit ihm im Bett, immer wieder fühlte ich ihn. Ich wurde ihn einfach nicht los.

Als ich zwölf war, bin ich abgehauen. Ich weiß nicht mal mehr, warum mein Vater mich an dem Tag so geschlagen hat, mir tat alles weh und ich wollte einfach nicht mehr. Er hat nie den Gürtel aus seiner Hose genommen, immer einen anderen. Ich konnte sowieso nicht schlafen und habe ein paar Sachen zusammengesucht, ein bißchen Geld genommen und habe mich dann nachts aus dem Haus geschlichen. Es ist keine so großartige Idee, sich mitten in der Nacht an die Straße zu stellen und den Daumen rauszuhalten, wenn man 12 Jahre alt ist. Der Autofahrer hat mich direkt bei der nächsten Polizeiwache abgeliefert. Ich hab nichts erzählt, ich habe gedacht, wenn ich meinen Namen nicht sage, dann können sie mich auch nicht zurückbringen. In meinem Portemonnaie war mein Name und meine Adresse. Die Polizisten waren freundlich, sie hätten mir wahrscheinlich geholfen, aber als ich im Auto saß, da konnte ich nichts mehr sagen, auch wenn ich gewollt hätte.

An dem Abend ist mein Vater völlig durchgedreht, weil ich versucht hatte, wegzulaufen und die Polizei mich zurückgebracht hatte. Ich glaube, das war das schlimmste für ihn, daß die Polizei vor der Tür gestanden hatte und das die Nachbarn es gesehen hatten. Er hat mich so schlimm verprügelt, daß sogar meine Mutter eingesehen hat, daß ich die nächsten Tage nicht in die Schule gehen konnte. Vielleicht hatte sie auch nur Angst, daß jemand fragen könnte, woher die vielen blauen Flecken und Striemen gekommen sind.

Meine Eltern hatten mich auf ein Gymnasium geschickt und da fiel ich auf. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren und ich bin manchmal einfach ausgerastet. Mein Mathelehrer war auch mein Klassenlehrer und ich glaube, er wußte so ungefähr, wie es bei mir zu Hause aussah. Er hat meine Entschuldigungen einfach akzeptiert, obwohl er bestimmt wußte, das ich sie selbst geschrieben hatte. Es gab nicht viele Leute, die es mit mir ausgehalten haben und eigentlich war ich meistens allein. Einsam zu sein ist etwas schlimmes. Natürlich hab ich andere Eltern gesehen, die ihre Kinder manchmal von der Schule abgeholt haben und ich hab auch gesehen, daß die Kinder sich darüber gefreut haben. Natürlich habe ich gesehen, daß die anderen keine Angst vor ihren Eltern hatten. Aber was hatte das mit mir zu tun?

Es war nach den Weihnachtsferien, ich war 13. Die anderen erzählten von Weihnachtsgeschenken und wohin sie gefahren waren. Ich hatte nichts zu erzählen. Höchstens, daß die Geschenke, die ich für meine Eltern gemacht hatte, immer noch auf der Fensterbank im Wohnzimmer standen, nicht ausgepackt. Da hab ich begriffen, daß ich gar kein Zuhause hatte und da bin ich wieder losgezogen, aber diesmal war ich schlauer. Ich hatte mir eine Geschichte ausgedacht, die ich jedem erzählen konnte und ich hatte alles an Geld mitgenommen, was ich klauen konnte. Es dauerte fast drei Wochen, bis sie mich erwischten. Es war eine beschissene Zeit, voll von Angst, aber ich konnte überleben und ich konnte machen, was nötig war. Und es gab niemanden, der mich verprügelte.

Es ging ein paar Mal hin und her, und dann traf ich Andi. Ich hatte am Anfang ein bißchen Angst vor ihm, er war ungefähr ein Jahr älter als ich und viel größer. Ich weiß bis heute nicht, warum er auf mich aufgepaßt hat, aber er war so eine Art großer Bruder, jedenfalls für ein paar Wochen und in meiner Erinnerung. Ich habe viel von ihm gelernt und er hat mir gezeigt, daß ich draufgehe, wenn ich so weiter mache und das war schlimm. Ich hatte nie viel über Zukunft nachgedacht, was interessierte mich die Polizei und das Jugendamt, die konnten nur reden. Andi hat mir nicht gesagt, was ich machen soll, er hat mir nur gezeigt, daß er nichts mehr machen konnte. Dachte er jedenfalls. Als das Jugendamt dann was von Heim erzählte, habe ich Ja gesagt, wegen Andi. Weil ich nicht in der Scheiße sitzen wollte, in der er saß.

Im Heim war alles anders und das war eine Katastrophe. Ich sollte plötzlich nachts schlafen und das war schwer. Schlafen hieß träumen und das wollte ich nicht, denn dann war ich oft wieder klein und rannte weg und kam nicht von der Stelle. Die ganze Angst, die ich mir selbst nicht erlaubte, die kam im Schlaf. Die erste Nacht hab ich auf dem Bett gesessen und bin immer nur mal kurz eingeschlafen, ich war sowieso immer müde. Dann habe ich das Mittagessen an die Wand geschmissen, gekochte Möhren und Kartoffelbrei und Bratwurst. Ich verabscheue gekochte Möhren, aber ich glaube, ich hab das nur gemacht, damit sie mir zeigen, daß sie mich nicht mögen. Mich konnte ja keiner mögen. Claudia war Betreuerin und hat nur gesagt, daß ich erst dann wieder was zu Essen kriege, wenn ich den Dreck weggemacht habe. Es war ein Spiel, das sie nur verlieren konnte, ich wußte, daß ich nicht verhungern würde und was davor kam, war mir egal, ich hatte schon oft Hunger gehabt. Am übernächsten Tag hat sie sich entschuldigt und wir haben den Dreck zusammen weggemacht. Ich hatte gewonnen, nur viel mehr, als ich gedacht hatte. Claudia ließ nicht mehr locker, sie ließ mich nicht einsam sein. Sie achtete auf meine Klamotten, auf mein Zimmer, auf mein Essen und wenn sie nicht da war, dann fehlte mir was. Ich hab erst viel später erfahren, daß ich oft kurz davor war, rausgeschmissen zu werden und das Claudia doch immer wieder auf meiner Seite stand. Ich habe ihr erlaubt, mich kennenzulernen, nach und nach, ganz langsam. Ich glaube, vor allem deshalb, weil sie sich einfach weigerte, mich nicht zu mögen. Sie hat mich auch manchmal angebrüllt, mir nicht erlaubt, die Gruppe zu verlassen, mir Strafarbeiten aufgebrummt, aber immer nur wegen Sachen, bei denen ich Mist gemacht hatte und immer nur wegen dieser Sachen, nie wegen mir.

Claudia hatte über Weihnachten Nachtdienst und Weihnachten ist eine beschissene Zeit. Ich bin dann sehr spät noch zu ihr gegangen, ich wollte einfach nicht allein sein. Ich hab dann angefangen, zu erzählen und es war so, als ob ich wieder sieben wäre und weinend vor meiner Mutter stehen würde, nur diesmal schlug sie mich nicht, sondern hörte zu. Sie schubste mich nicht weg, sie schaute mich nicht an, als wäre ich ein wildes Tier oder ein Stück Scheiße. Sie weinte auch ein bißchen. An diesem Abend habe ich angefangen, wieder ein Mensch zu werden. Seit diesem Abend habe ich nie wieder absichtlich Mist gebaut. Claudia hat für eine Therapie gesorgt und am Anfang bin ich nur hingegangen, weil Claudia es wollte.

Seit diesem Abend wurde es langsam besser. Es war nicht einfach, aber ich war nicht mehr allein. Es gab gute Tage und es gab beschissene Tage, aber die guten wurden langsam mehr. Ganz langsam hörte ich damit auf, vor jedem Menschen Angst zu haben. Ganz langsam fing ich an, Freunde zu finden und so langsam kam ich auch in der Schule klar. Es war schwer, aus dem Heim auszuziehen, aber ich hatte genug gelernt, um zurecht zu kommen. Claudia war da, als ich mein Abiturzeugnis bekam und auch ein paar andere verdammt gute Freunde.

Happy End? Nicht ganz. Kurze Zeit später erwischte mich der Krebs und es dauerte fast ein Jahr, bis ich wieder auf den Beinen war. Aber ich hatte gelernt, um mich und für mich zu kämpfen und ich glaube, nur deshalb lebe ich noch.

Ich habe nur noch selten Albträume und die meisten Tage sind gute Tage. Und das ist mehr, als ich gehofft hatte. Mein Freund hat mich mal gefragt, ob ich mich auch als Survivor bezeichnen würde. Ich habe ihm gesagt: "Ja, ich bin _auch_ ein Überlebender, aber ich bin auch der Mensch, der dich am meisten auf dieser Welt liebt und ich bin auch vieles andere."

Was geschehen ist, ist ein Teil von mir, vielleicht sogar ein großer Teil, aber es ist nicht alles. An manchen Tagen bin ich so wahnsinnig stolz auf mich, auf das, was ich geworden bin, trotz allem. An den beschissenen Tagen weine ich manchmal um mich und wenn ich mich an den kleinen Jungen erinnere, der an der Straße stand und den Daumen raushielt, dann tut das entsetzlich weh ... aber ich bin auch ein bißchen stolz auf diesen Jungen, der es geschafft hat, mit soviel Mut, Einfallsreichtum und Stärke zu überleben ... und dann muß ich auch wieder ein bißchen lächeln.
 
 

© 2001 Thommysplace@gmx.net